Stets enthält das Frühjahrsheft der spritz Beiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Berliner Autorenwerkstatt Prosa, die im Herbst zuvor an vier Wochenenden im Literarischen Colloquium am Wannsee stattgefunden hat. Manche dieser Hefte sind sehr lesenswert, das der Werkstatt 2009 etwa, in dem Emanuel Maeß, Inger-Maria Mahlke, Andreas Martin Widmann vertreten sind; eins ist sogar legendär, das der Werkstatt 1997, das Beiträge von Georg Klein, Inka Parei, Judith Hermann und Norbert Zähringer enthält. Dazwischen kann Dürre herrschen: Die Hefte sind Wundertüten. Und in der Tüte zur Werkstatt 2019 steckt wieder jede Menge Magie und Faszinosum. Die Ich-Erzählerin von Kristin Altmann (*1979) beobachtet auf der Fahrt zum Flughafen in einem Berliner S-Bahnhof das Sterben einer Taube, eine brillante Sequenz, die zum Ausgangspunkt einer Expedition tief in die Kindheit und in die Familie wird, jeder Satz reines Gold. Anke Dörsams Erzählerin kommt aus dem Land Wursten, einer herben, beinahe tristen Küstenregion zwischen Bremerhaven und Cuxhaven; inzwischen lebt sie in Berlin und arbeitet sich mit Freundinnen durch die Schwimmbäder der Stadt; was sie dabei erlebt, ist - überspitzt gesagt - womöglich das, was mir in John von Düffels etwas unterkühltem Roman Vom Wasser gefehlt hat. Marlen Pelny (*1981) - mit Chio Schumacher als 'Zuckerklub' in Berlin musikalisch aktiv und mit Ulrike Almut Sandig Verfasserin von Hörbüchern - hat kurz vor Corona in der Münchner Lesereihe 'LIX' im Theater HochX einem begeisterten Publikum zwei lebenskluge, unterhaltsame, dabei ambitionierte Kapitel aus ihrem weit gediehenen ersten Roman vorgestellt, der autobiografisch grundiert von zwei Frauen erzählt, die sich im Leipziger literarisch-musikalischen Underground kennen lernen und nicht nur künstlerisch einiges auf die Beine stellen; in der spritz gibt es ein drittes Kapitel zu lesen, das dem Subgenre 'Tourtagebuch' zuzurechnen ist und den Vergleich mit Claudia Kaisers Rocken und Hosen nicht scheuen muss. Andrej Schulz (*1988), ein Autor mit ostukrainedeutschem Hintergrund, um ein Unwort zu kreieren, erzählt aus Kinderperspektive die Expedition zu einem unheimlichen Haus, und das so soghaft, dass ich sofort hätte weiterlesen wollen. Und Harrie Tosch, der/die sich im m/w/d-Tableau vermutlich unter 'd' einordnet, beglückt in "Eddy und AC" mit einer Begegnung voller Erste-Sahne-Sätze wie "Die Sonne brennt sich in mein Gesicht, und ich liege optimal platt auf der Tischtennisplatte"; der Text wirbelt gendermäßig durcheinander, was geht, und ein Timing hat der/die Harrie: Bombe; denn er ist, um in ihrer Diktion zu bleiben, ne Leuchte. Dass im Jahrgang 2019 viele Texte alles andere als heteronormativ daherkommen, hat sicher auch damit zu tun, dass Antje Ravic Strubel (mit Thorsten Dönges) die Werkstatt geleitet hat. Gut so. Weiter so.
Es ist immer toll, wenn langjährige Erker-AutorInnen einen Coup landen. Angelica Seithe, im Juli 75 geworden und seit dem Sommerfrische-Erker (2010) oft in unserer Zeitschrift vertreten, hat in der ersten Sinn und Form der neuen Dekade drei Gedichte veröffentlicht, eines davon "An die Bachmann". Hier sei "Fischer" zitiert: "In Worthütten wohnen wir / hocken hinter dem Strand / Vor Sonnenaufgang gehen wir fischen / werfen das Netz / hoffen auf Schwärme / auf Sätze beweglichen Silbers // Ziehen nichts als den Schleier der / Sonne ins Boot // Genug für den Tag". Im gleichen Heft steuert Marc Sagnol "Galizische Erkundungen" bei und begibt sich dabei nicht, wie viele vor ihm, nach Lemberg, sondern zieht durch Kleinstädte, durch Sambor, Stryj und Bolechów. Der mit Sprache und Geschichte des Landes offenbar bestens vertraute Autor, der als Kulturattaché in Moskau gearbeitet und das Institut Français in Kiew geleitet hat, spürt dabei den jüdischen und polnischen Spuren in der Region gleichermaßen nach und gedenkt der Verheerungen, die die deutsche Okkupation 1941-44 und die Westverschiebung Polens 1945/46 angerichtet haben. NS-Rassenwahn und ukrainischer Nationalismus haben ungut zusammengespielt, wie in Gestalt des in der Westukraine noch weithin als Nationalheld geltenden Stepan Bandera - eines Antisemiten, der mit Hitler lange gemeinsame Sache gemacht hat - deutlich wird. Bald soll der Gesamttext in der Übersetzung von Andreas Fliedner im Kadmos Verlag erscheinen; man darf gespannt sein.
Wann immer es sich einrichten lässt, schaue ich mir Jürgen Böttchers DEFA-Spielfilm Jahrgang 45 an, den es im Berliner Arsenalkino und im Filmmuseum München mit einiger Regelmäßigkeit zu sehen gibt, gern begleitet von Kurzdokus wie Barfuß und ohne Hut (1965), Der Sekretär (1967), Rangierer oder Kurzer Besuch bei Hermann Glöckner (beide 1984). Dass Jahrgang 45 - wie weitere Spielfilme 1965 von der SED verboten und bis 1989 praktisch nicht aufgeführt - zu den schönsten deutschsprachigen Filmen der 60er Jahre zählt und von bis heute kaum eingeholter, geschweige denn überholter Leichtigkeit ist, das ist nach meinem Eindruck im Westen selbst bei Cineasten vielfach nicht angekommen. In Sachsen oder Ostberlin indes ist Böttchers Bedeutung unumstritten, und so nimmt es nicht Wunder, dass im Dresdener Ostragehege eine sehr schöne, mit vielen aktuellen Gesprächszitaten versehene Würdigung erschienen ist, die zumal dem Maler und Zeichner Böttcher gilt, der sich als bildender Künstler Strawalde nennt (in Strahwalde/Oberlausitz ist er aufgewachsen). Die schönen Reproduktionen seiner Gemälde, Drucke und Übermalungen allein schon lohnen den Erwerb dieser mit 4,90 Euro staunenswert günstigen "Zeitschrift für Literatur und Kunst".
Die Hildesheimer druckt in ihrer 55. Ausgabe "Mathilda", einen Prosatext von Marie-Kristin Boden (*1994 in Lengerich), der hoffentlich Teil eines weit gediehenen Romans ist, denn ich will mehr über Mathilda wissen. Hier der Beginn des Textes: "Die Nacht ist hell. Mathilda hat Raufasern am Fuß, weil sie sich damit an der Dachschräge abstützt. Sie kratzt mit dem Zehennagel über gräulich gewordene Bläschen, diese in Papierschichten eingeschlossenen Holzfasern, die, so kommt es ihr vor, jede Hausinnenwand zieren. Mathilda mag Raufasern, wie sie sich vielfach aus Wänden herausbuckeln und damit willkürliche Formationen bilden. Sie schaut sie gern an. Außerdem sind sie beständiger als Wolken. Es ist gut, wenn man sich im Chaos auf etwas verlassen kann, und ihrer Raufasertapete kann sie dahingehend wirklich nichts vorwerfen. // Gerade ist es zu dunkel, um in ihrem Zimmer mehr als nur Umrisse erkennen zu können, und das stimmt Mathilda relativ zufrieden. Über ihr ist der andere, verwebt seine Hand mit ihrem Haar, sein Daumen ist auf Höhe ihrer Schläfe und sein Schwanz in ihr. Mathilda also: gespreizt, ein Bein gegen die Dachschräge und deswegen die Raufasern am Fuß. Sie sind seit einer Weile dabei, miteinander zu schlafen, und sie bemerkt, dass sie nicht mehr bei der Sache ist und sich unsicher, ob sie das stört." Später heißt es dann: "Mathilda stellt sich vor, sie trüge einen Maulwurf in sich, der sich emsig durch ihren Unterleib gräbt, seine festen Krallen in sie schlägt, um sich einen Weg zu bahnen" - ein Beginn, dem sich eine virtuose Schilderung von Körperabgründen anschließt.
Zuletzt sei wieder mal Ulrich Mannes' SigiGötz-Entertainment gepriesen, ein vornehmlich dem Genrekino zumal der 50er, 60er und 70er Jahre in Westdeutschland und Österreich gewidmetes Fanzine, das auf den bunten Prärien von Nonsense und Wahnsinn stets aufs Neue herrlichste Erkenntnisblüten wachsen lässt. Durch Graf Haufen zum Beispiel, in den 80ern in Westberlin New-Wave- und Industrial-Musiker, Betreiber eines Kassettenlabels, Mail-Art- und Performance-Künstler, Underground-Galerist, Filmpublizist und -produzent und seit Jahrzehnten unter seinem bürgerlichen Namen Karsten Rodemann Betreiber einer exzellenten Videothek namens 'Videodrom' in Kreuzberg (Friesenstraße, nahe Marheinekeplatz). Die taz hat über ihn geschrieben, er verwalte bis heute "mit einer gewissen Zwanghaftigkeit obskures Wissen", und das dürfte stimmen. In Streamingzeiten indes ist das Betreiben einer Videothek - trotz großer, penibel geordneter Schätze - eine hochprekäre, fast ruinöse Angelegenheit, und wo gibt es heute überhaupt noch Videotheken? Dabei ist Graf Haufen der informierteste und charmanteste Plauderer und noch dem Abwegigsten aufmerksam zugewandt, "bizarr-psychedelischen TV-Shows für Kinder" zum Beispiel, über die er in SGE 33 und 34 berichtet. Wem das zu abseitig ist, der goutiert vielleicht die nun schon in dritter und vierter Folge erschienene Reihe "Character Actors", die Chargenschauspielern mit Würde und Respekt begegnet, sie nie zu Knallchargen herabwürdigt. Was Sie nie über Felix Bressart oder Kurt Meisel wissen wollten, hier können Sie es nachlesen, womöglich mit großem Gewinn, weil es Sie auf die Filmkomödie Die Privatsekretärin (1931) von Wilhelm Thiele mit Renate Müller stoßen wird, für die Paul Abraham den Schlager "Ich bin ja heut so glücklich" komponiert hat; oder auf Detlef Siercks Schlussakkord (1936). Herrlich auch "Der Wert der Kartoffel als Nahrungsmittel", ein Text, der den Hardcore-Cineasten Mannes als Radfahrer erlebbar werden lässt, mit seiner Gefährtin zumal. Wohin aber treibt es einen radelnden Cineasten und Fanzinemacher? Auf Jacques Tatis Spuren nach Frankreich aufs Land? Oh nein! Sondern nach Rehau in Oberfranken, ganz in der Nähe von Hof, allerdings nicht der dortigen Filmtage wegen, sondern weil es sich um den Geburtsort von Regisseurs Sigi Rothemund aka Siggi Götz handelt. Dann aber zeigt sich, was die Provinz alles zu bieten hat: das Erika-Fuchs-Haus in Schwarzenbach zum Beispiel und auch Eugen Gomringers Gedicht "avenidas", das nach seiner Entfernung von einer Außenmauer der Alice-Salomon-Hochschule Berlin an einem Haus in Rehau eine neue Bleibe gefunden hat. "Reportagen radelnder Redakteure" - wäre das nicht eine schöne Rubrik, die auch anderen Zeitschriften zur Ehre gereichen würde? |