Am Erker 79

 
Texte
Am Erker 79, Münster, Oktober 2020
 

Thomas Glatz
Bei Doktor Meduse

"Letzte Woche waren wir im Urseler Wald und am Knittelbronner Schneesen. Die herrliche Aussicht auf Braken an der Plautze! Der schöne Abstieg nach Kneetsch. Die taubedeckte Schneuz! Der Honigladen bei der alten Kapelle! Eine herrliche Wanderung! Kann ich nur wärmstens empfehlen."
Doktor Meduse macht ein freundliches Gesicht. Er erzählt gern von seinen Wanderungen durch den Knittelbronner Schneesen, lieber aber von denen durchs Hutten­lohische und am allerliebsten vom Lewatzki-Prsk-Park, den es leider nicht mehr gibt.
Meduse schiebt seine Brille auf die Nasenspitze und schwärmt: "An Ehrnbichl, an Keschn vorbei, dann runter nach Huttenloh, wo die Bäckerei Löbemann ihren Stammsitz hat. Dann weiter die Ömmer entlang zum Kahlen Hundsellebogen. Da ist das Lewatzki-Prsk-Schloss. Das Orange der Baumärkte und das sanfte Grün des Waldes dahinter! Früher gab es da noch den herrlichen Lewatzki-Prsk-Park. Wo jetzt das Industriegebiet ist, der Zacki-Heimwerker­markt und die Zentrale der Bäckerei Löbemann. Die Mode-Direktrice und Repropuppen­fertigerin Bübbenwanst hat mir kürzlich erzählt, die Bäckerei Löbemann habe jetzt auch eine Filiale in Bockhorn-Sintebostel. Wenn das der Altbäcker Göller wüsste! Der Gute würde sich im Grabe umdrehen. Die Konditorei Löbemann in Bockhorn-Sintebostel! Da scheint der Rubel zu rollen bei denen. Na ja, haben ja auch gute Ware. Die Hawaii­pizzanackt­schnecken, die Lebzelten und die Pferdehonig­kuchen! Ein Gedicht! Haben Sie die einmal probiert? Als Buben sind wir oft im Lewatzki-Prsk-Park gesessen und haben diese herrlichen Pferdehonigkuchen gegessen. Ach!"
"Die Pferdehonig­kuchen von Löbemann habe ich nie probiert", sage ich. "Aber ich erinnere mich, in dem Park als Jugendlicher gern Frisbee gespielt zu haben. Ist das lange her! Senfgrüne Scheiben waren das damals, und sie hießen nicht Frisbee, sondern Mach-mit!-Trimm-Dich-fit!-Scheibe, kurz Trimmie. Frisbees gibt es noch, aber der Park ist verschwunden. Heute steht dort ein Gewerbegebiet. Und ein Wieder­aufbearbeitungs­institut für Weltraumschrott."
"Leider", pflichtet Dr. Meduse mir bei. "Es heißt aber Wieder­aufbereitungs­institut. Eines dieser Institute, wie es sie plötzlich überall zu geben scheint. Die wachsen wie Pilze aus dem Boden. Fragen Sie mich nicht. Scheinbar ist Weltraum­schrottwieder­aufbereitung ein lukratives Geschäft.
Wo ist er hin, der alte Knörich, der sommers wie winters im Park die Blätter zusammen­gekehrt hat? Win­ters weniger. Aber im Herbst. Da war zu tun. Der alte Knörich in seinem orangefarbenen Overall, immer einen Scherz auf den Lippen. Nie habe ich ihn mürrisch oder betrübt gesehen. Oder die alte Frau Bollner, die kennen Sie bestimmt noch, die immer die Tauben mit Hawaii­pizzanackt­schnecken gefüttert hat? Oder die steinernen Löwen, auf denen manchmal die Jugendlichen ritten und Selfies von sich machten?"
Ich nicke.
"Den Gärtner Lobenstein nicht zu vergessen! Der hielt uns immer an, auf den ausgewiesenen Wegen zu gehen. Ich habe sein 'Bürger schont eure Anlagen!', das mahnend durch den Park schallte, heute noch im Ohr. Er trug eine Brille, die seine Augen viermal vergrößerte, und so sah auch sein Zorn viermal größer aus. Als Kinder hatten wir Angst vor ihm.
Oder die alte Frau Ulle, leibhaftige Nachfahrin des Grafen Lewatzki-Prsk, die ihren Hund rief, den es gar nicht mehr gab und vielleicht nie gegeben hat. Vor der hatten wir richtig Angst. Gärtner Lobenstein konnte auch lustig sein und zum Amüsement von uns Buben auf dem linken der beiden steinernen Löwen einen Handstand machen, durch seine Zahnlücke pfeifen und gleichzeitig das Siebener- oder Dreizehner-Einmaleins aufsagen.
Er war Kasachstan­deutscher und hat seine Papirossi aus Zeitungspapier gedreht und mit Spucke zusammengeklebt. Ich erinnere mich noch gut, wie es im Dunkeln immer rot, gelb oder grün leuchtete, wenn er rauchte und die Druckfarbe zischend verbrannte. In der Abenddämmerung, wenn die Glühkäferchen aus den Büschen geschwirrt, die Fledermäuse durch die Nacht gesegelt und die Ratten aus den Gullys gekommen sind, sah das besonders unheimlich aus. Der gute Lobenstein. Die Repropuppen­fertigerin Bübbenwanst fürchtete sich vor seiner tabakschwarzen Zahnlücke. Spielte sich auf wie ein tollwütiges Känguru, der Gute, wenn wir nicht auf den ausgewiesenen Wegen gingen. 'Bürger schont Eure Anlagen!' Das Bürger sprach er immer wie Birger aus."
Doktor Meduse rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, kratzt sich in kreisförmigen Bewegungen die Glatze, formt seine Finger zu einer Harke und fährt sich damit durchs restliche Haar.
"Als Ruheständler oblag er dem edlen Waidwerk und ließ den lieben Gott einen frommen Mann sein. Ist kreuz und quer durch den Wald gepirscht und nie nur auf den ausgewiesenen Wegen. Gott hab ihn selig."
Ich habe den Park nun bildhaft vor Augen: ein Gartenteich mit einem riesigen Karpfen, der über seinen Tümpel wie ein widerlicher Tyrann wacht; nackte Frauengestalten mit Füllhörnern; Obelisken aus Marmor, von Kugeln getragen; ein grasiger kleiner Platz mit den Angestellten der Dachpappen­fabrik, die dort in den Mittagsstunden unter den lauschigen Bäumen ihr Asia-Take-Away und ihre Pferdehonig­kuchen zu verspeisen pflegten; die vielen Krähen, die - auf Krümel wartend - zwischen der Pfeilmarter des Heiligen Sebastian und der Unbefleckten Empfängnis saßen oder neben den grün gestrichenen Bänken, die in den Siebzigern ausgetauscht und durch unbequeme braune Hartplastik­sitzschalen ersetzt wurden; die herrlichen Kastanien mit ihrem weitschweifigen Astwerk.
"Ich denke an einen Tag zurück, an dem wir Trimmie gespielt haben, heimlich, denn wir durften die Wiese ja nicht betreten, und der Park in besonders schönes Herbstlicht getaucht war. Die ausladenden Akazien. Der Sonnenuntergang. Das milde Licht. Das Sirren des Trimmies. Er roch so komisch, wie ein Fichte-Aufguss in der Sauna. Kennen Sie den Geruch?"
Doktor Meduse nickt.
"Es schien, als würden die Rentner mit ihren Rollatoren über die ausgekiesten Wege schweben wie von Schalmeien­klang beschwingte Elfen und beim Dahinschweben die 30 Capriccios für Flöte von Siegfried Karg-Ellert im Discman hören. Der Park duftete nach Herbst, Alter und Abend. Es stand ein bisschen kalter Mond am Himmel."
"Der Lewatzki-Prsk-Park! Was für ein Verlust", sagt Dr. Meduse und rutscht wieder unruhig auf seinem Sitz hin und her. Seine Miene versteinert. "Und heute? Weltraum­schrott­wieder­aufbereitungs­anlagen. Weltraum­schrott­wieder­aufbereitungs­anlagen!" Dr. Meduse stößt ein kurzes, hartes Lachen aus.
Wir lästern über Weltraum­schrott­wieder­aufbereitungs­anlagen, worüber eine Stunde schlank verfliegt. Der Zahnarzt Meduse macht nun wieder ein freundliches Gesicht. Ich schlucke. Dann startet er seine Wurzelbehandlungs­drohne. Ich öffne den Mund.