Am Erker 79

 
Texte
Am Erker 79, Münster, Oktober 2020
 

Gregor Endhardt
Lund

Lund ist ein Backsteinungetüm. Durch die niedrigen Häuserreihen weht tagein, tagaus ein kalter Wind, und obwohl die Stadt angeblich zu einem guten Drittel von Studenten bevölkert wird, sieht man wenig junge Leute auf den Straßen. In den zahlreichen Parks und Kneipen sind sie auch nicht. Man geht hier einsam. Durch den Botaniska Trädgården etwa. Oder den zentral gelegenen Lundagård hinter dem Dom. Alles sollte dafür sprechen, dass man sich hier heimisch fühlen könnte - das Gegenteil ist der Fall. Der kulturelle Unterschied zwischen Deutschland und Schweden ist zu gering, als dass man ihn als abenteuer­liche Abwechslung erlebt, er bleibt schlichtes Gefühl von Fremdheit. Der seltsame Geschmack der Backwaren, der auch im Kaffee ist, der selbst in den Brötchen bei Burger King steckt. Die zuvorkommende Freundlichkeit der Einheimischen, die sich anders anfühlt, so ernst. So erwachsen.
Von alledem fühle ich mich aus dem Stadtzentrum gedrängt, ziehe mich in den Stadtpark zurück, wo ich mich bei dänischem Dosenbier auf eine Bank in den Wind setze. Doch auch dieses bewährte Ankunftsritual funktioniert hier nicht. Lund duldet keine Leichtigkeit. Nervös stehe ich auf. Ich habe die Sonne im Rücken, und mein Schatten fällt vor mir aufs Gras - das bald wieder Kopfsteinpflaster weicht, denn die unnachgiebige Rastlosigkeit treibt mich zurück in die Backsteingassen. Auch der nächste Park gönnt mir keine Ruhe. Ich fotografiere mich vor dem Hintergrund von Sehenswürdigkeiten und erschrecke vor meinem Gesicht. Die Augen blicken verschreckt, das Haar ist in Unordnung. Alles ist in Unordnung. Ich muss die Bilder direkt wieder löschen, ich will sie nicht noch einmal ansehen. Mir bleibt nur der Weg zurück ins Hostel. Bereits beim Betreten des Zimmers hasse ich diese Entscheidung. Doch sie ist ohne Alternative. Hier kann ein Mensch nirgends existieren.
Ich glaube, die Häuser kauen nachts auf den Schlafenden. Ganz leicht nur, es bleibt nur eine leise Zermürbtheit nach dem Erwachen. So presst der Backstein Nacht für Nacht die Substanz aus dem Gebein. Das Rückgrat muss beweglich bleiben, sich ausreichend im Wind beugen können. Ich habe Angst, mich schlafen zu legen, denn ich weiß nicht, in welchem Zustand mich das Bett am nächsten Morgen entlassen wird. Doch auch diesem Untier will ich in den Rachen greifen. Ein blinder Sprung in den Regen hinter dem Fenster.
Im Laufe des nächsten Tages, auf der Veranstaltung, deretwegen ich angereist bin, wird einiges schnell klar: Die Promo­vierenden der Lund University wissen, wie man Artikel für Fachzeit­schriften schreibt. Sie wissen früh, zu welcher Community sie sich zählen wollen, in welchem wissenschaft­lichen Diskurs sie sich verorten. Sie interessieren sich für die Arbeit der anderen - zumindest bis sie einschätzen können, inwieweit sie das eigene Karriere­netzwerk bereichern kann. Für wessen Netzwerke ich als Kontakt interessant bin, lese ich an den Mienen, während ich von meiner Arbeit berichte - sinkendes Interesse im Gesprächs­verlauf kann hier niemand verheimlichen. Wir haben ja alle keine Zeit zu verschenken. Ob sie wissen, dass sie nichts begriffen haben von der Welt? Ich bin über das Ende jedes einzelnen Gesprächs dankbar. Ich vermeide Blickkontakt, um nur nicht das Interesse weiterer Karrieristen zu wecken.
Der Wind kommt vom Festland her. Die Zivilisation schmiedet ihn in ihren Werkstätten. In ihren Theatern und Schulen, Kinos und Diskotheken, in ihren Einkaufsmeilen und Ministerien. Beim Beischlaf weht er aus den Laken; aus den Faxgeräten geeilt, verrennt er sich in den Räumen, bricht durch die Fenster der Bürotürme ins Freie, erfasst alles auf seinem Weg und trägt es in die Gosse. Er lässt einen keinen klaren Gedanken fassen, weht sie alle hinaus aufs Meer, lässt einem beim Blick zur Seite die Augen tränen. Er lässt mir die Zeilen, deren Eintippen mir Freude bereitet, mittelmäßig erscheinen, mit Blick auf die internationale Konkurrenz. Bis zur Scham, ich muss mich zurückhalten, das Geschriebene nicht zu löschen. "Konkurrenz" - wer hat dieses Wort erfunden? Die Zivilisation ist es nicht. Jedes ausgestorbene Tier kennt es.
Tapfer muss man sein, all die naheliegenden Lösungen abzulehnen, bleibt doch kein Objekt für den Hass. Die allem innewohnende Ambivalenz erlaubt keine Urteile, gibt jeden Standpunkt der Lächerlichkeit preis. Und wenn am Ende alles in Nuancen für alles gilt, verschlingt die Indifferenz jede kleinste Möglichkeit, sich zu verorten.
Man sollte also eines der backsteinernen Häuser beziehen, die morgendliche Zermürbtheit als Lebendigkeit erfahren, damit das Joch zur Rah werden kann, von der man ein Segel herablassen mag, von großer Fläche, damit der Wind kräftig hineingreifen kann. Er wird schon wissen, wohin er einen zu tragen hat.