| Fritz Müller-Zech
 
 Zwanzig Jahre gibt es "Am Erker" inzwischen, 
                für eine Literaturzeitschrift eine unglaublich lange Zeit, 
                wie die "Erker"-Senioren nicht müde werden zu betonen. 
                Dann beginnen sie meistens von den Pionierzeiten zu erzählen, 
                als "Am Erker" noch eine radikale alternative Literaturzeitschrift 
                war. Nun ist so ein Jubiläum ja ein schöner Anlaß, 
                einmal nachzuprüfen, wie revolutionär "Am Erker" 
                in den späten siebziger Jahren wirklich war. Einfach war 
                es nicht, an die ersten Ausgaben zu gelangen. Doch nach längerem 
                Suchen fand sich in einer Ecke des Redaktionsbüros ein verstaubter 
                Standordner mit vergilbten Heftchen im Din-A-5-Format, und nun 
                liegen sie vor mir, die sagenumwobenen "Erker" der Siebziger. Das erste Heft erschien 
                im Dezember 1977 und gibt definitiv Aufschluß darüber, 
                wie die Zeitschrift an ihren Namen gekommen ist. Hier findet sich 
                nämlich Friedhelm "Fiffi" Hüwes cut-up-Text 
                auf der Grundlage von Kafkas Amerika: "Am Erker", 
                der mit dem kühnen Satz "In New York war das Meer rohes 
                Fleisch" beginnt. Der Autor hatte mit den "Erker"-Gründern 
                Feldmann und Kofort die kurzlebige Literaturzeitschrift "Der 
                Maiskolben" betrieben und war 1977 unter rätselhaften 
                Umständen ums Leben gekommen. Ansonsten präsentiert das 28 Seiten starke 
                Heft, das übrigens nur 50 Pfennige ("im Straßenverkauf 
                durch die Herausgeber") kostete, Agit-Prop-Lyrik ("Genossen, 
                Genossinnen, Brüder und Schwestern / hört mich"), 
                sogenannte Spontantexte ("Eine Seite voll!"), neusensible 
                Gedichte und viel Programmatisches. Schließlich wollte "Am 
                Erker", so die gemeinsame Erklärung der Herausgeber 
                aus Lünen und Emsdetten, "Literatur nicht als Fetisch, 
                sondern als instrumentalen Bestandteil des politischen/ alltäglichen 
                Lebens darstellen". Ins gleiche Horn bläst der junge 
                Dieter M. Gräf, mittlerweile preisgekrönter Vertreter 
                der lyrischen Avantgarde bei Suhrkamp: "Ich schreibe, weil 
                ich mich wehren will, weil ich Angst habe, daß die Kette 
                aus dampfender Luft, die fein geschmiedet um meinen Hals liegt, 
                mich erdrückt." Gräf gehört auch zu den beiden 
                Gewinnern (und Teilnehmern) eines merkwürdigen Lyrikwettbewerbs 
                um das beste Ostergedicht, den das "Erker-Kollektiv" 
                unter dem Charles Bukowski-Motto "Ich bin ein großer 
                Dichter, ja Scheiße, das einzige Große an mir sind 
                meine Eier" veranstaltete.  Bemerkenswert ist auch das aus heutiger, durch 
                moderne Computertechnologie verwöhnte Sicht hundsmiserable 
                Layout des ersten "Erker". Der Schreibmaschinensatz 
                ist teilweise unleserlich, und Tippfehler wurden von den sorglosen 
                Redakteuren handschriftlich korrigiert. Zwischen die Texte klebte 
                man, wahrscheinlich aus dem 2001-Merkheft, ausgeschnibbelte Bilder 
                aus Robert-Crumb-Comics oder Selbstgemaltes. Schließlich 
                zählte für das "Erker-Kollektiv" der Inhalt 
                und nicht die Form, wie in der Rezension eines Gedichtbandes betont 
                wird: "ich finde, daß 9,80 dm für ein buch mit 
                100 seiten einfach zu teuer sind, vielleicht hätte man mit 
                weniger aufwand und rationellerer seitenaufteilung das buch preiswerter 
                machen können. auf manchen seiten ist nur ein gedicht abgedruckt. 
                der rest der seite ist weiß." (Man beachte die radikale 
                Kleinschreibung.) In der gleichen Besprechung artikuliert sich 
                Skepsis, was die Haltbarkeit von Gedichten zu aktuellen politischen 
                Themen angeht, eine Kritik, die der Autor des Lyrikbandes, Werner 
                Schlegel, im folgenden Heft vom Frühjahr 
                1978 sofort als tendenziell reaktionär entlarvt.  Auch in den nächsten Ausgaben ging es mächtig 
                politisch zu. Junge antimilitaristische Dichter verarbeiteten 
                ihre Zeit bei der Bundeswehr, andere träumten davon, als 
                Biene die Vertreter der Staatsgewalt zu piesacken oder klagten 
                generell das Schweigen angesichts des Elends in der Welt an.  "Am Erker" 
                Nr. 3 ziert ein ziemlich unappetitliches Photo einer Kunstschlachtung 
                des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch mitsamt einem passenden 
                Gedicht von Joachim Hohmann, "Der bauer hat die sau gestochen 
                / jetzt hängt sie blutend in der tür / ..." Im 
                Heft selbst finden sich ein schöner Text von György 
                Dalos, "Wien, September 1964" und erstmals Gedichte 
                des späteren Mitherausgebers Rudolf Gier, die dieser während 
                des Schulunterrichts geschrieben hatte.  Im Frühjahr 1979 erschien mit der Ausgabe 
                5 ein ziemlich sauber produziertes Heft. Diesmal stammten 
                das Illustrationsmaterial weitgehend aus der "Peking-Rundschau". 
                Die Bilder dienten wohl hauptsächlich dazu, weiße Flächen 
                zu verhindern, ein Bezug zu den Texten ist nicht zu erkennen. 
                Das Editorial widmet sich vor allem der Korrektur von Druckfehlern 
                in der vorhergehenden Ausgabe, während im Heft eine große 
                Debatte über die Aufgabe alternativer Literaturzeitschriften 
                tobt, ausgelöst durch einen Beitrag des späteren TAZ-Redakteurs 
                (und heutigen Privatfernsehmanns?) Benedict Mülder in der 
                Nummer 4, der befand, es gebe nicht 
                nur "zu viele, die richten und henken in diesem Land, sondern 
                auch deshalb zu viele, die dichten und denken". Und die jungen 
                Dichter geben sich revolutionär wie gewohnt. "Ästhetik?", 
                ruft der Autor Helmut Blepp, "Darum geht es nicht mehr vorrangig." 
                Die Aufgabe einer Literaturzeitschrift sei, die Sprache als Waffe 
                einzusetzen, wogegen Peter Beicken nüchtern feststellt: "Unsere 
                Gedichte holen keinen Richter oder Henker vom Stuhl." Mit der Herbstausgabe 
                des gleichen Jahres erscheint zum ersten Mal ein Themenheft. "Männer 
                und Schönheit" lautet das provokante Motto, und auf 
                der Titelseite prangt - gleichsam als Kontrastprogramm - in martialischer 
                Pose Franz-Josef Strauß. Friedhelm Wenning, damals Mitherausgeber 
                und Drummer in der redaktionseigenen Band "Apostel Gäng", 
                konnte nach der Lektüre von Hunderten apokalyptischer Gedichte 
                nur noch mit seiner Parodie "An die Dichter des Grauens", 
                die mit der bemerkenswerten Zeile "Grausam graute der Morgen 
                des Grauens" beginnt, reagieren. Schließlich waren 
                es damals nur noch wenige Jahre bis 1984, und Strauß schickte 
                sich an, Kanzler zu werden, was Gerd Steier zu einem Aufruf an 
                den Widerstand inspirierte. Die Nr. 6 war die letzte Ausgabe der 
                siebziger Jahre. Die Achtziger begannen mit einer zünftigen 
                Krise beim "Erker-Kollektiv", die Herausgeber Feldmann, 
                wie er noch heute gerne erzählt, überwand, indem er 
                im Alleingang die Doppelnummer 7/8 
                zusammenklebte, während der Rest des Kollektivs im sonnigen 
                Süden weilte. Aber das ist eine andere Geschichte. |