Martin Ebbertz
Ein Jäger muß früh morgens aus
dem Bett. "Raus aus den Federn!" pflegte Schulze zu
sagen. "Man ist der erste Mensch!" Das sollte wohl heißen,
der Jäger ist das erste menschliche Wesen, das sich in der
Frühe in den Wald begibt, noch vor den Waldarbeitern, den
Wanderern und allen. Schulze war Zilligs Lehrherr.
An seinen freien Tagen stand Zillig noch vor Anbruch der Dämmerung
vor Schulzes Jagdhütte. Das kleine Ritual blieb sich immer
gleich. Zillig klopfte drei mal an die Tür. "Wie ist
die Losung?" rief es von innen heraus. "Mensch!"
sagte Zillig. Die Tür öffnete sich, und Schulze stand
im Eingang. Er war bereits fertig eingekleidet. Er trug eine Kniebundhose
und einen grünen Lodenmantel. Sein Hut war mit ein paar kleinen
Federn geschmückt. Um die Schulter hing seine Büchse.
"Dann auf!" sagte Schulze.
Es ging dennoch nicht sofort in den Wald hinaus. Zillig folgte
Schulze in seine Jagdhütte. Der Morgen begann mit einer kleinen
Prüfung. Die Männer schritten schweigend die Wände der
Hütte ab, beide in voller Jagdmontur, Zillig allerdings ohne
Gewehr.
An den Wänden hingen Geweihe und ausgestopfte Tiere auf Brettern
aus Eichenholz. Ein Fuchs stand friedlich neben einem Rebhuhn.
Ein mächtiger Auerhahn thronte über mehreren Gehörnen
von Rehböcken, Hirschgeweihen und den Hauern einiger Keiler.
Vor dem Geweih eines Damhirsches blieb der Förster stehen.
"Na?" sagte Schulze. Zillig sollte das Alter raten.
"Man müßte die Zähne sehen", sagte Zillig.
"Ja", sagte Schulze. "Aber macht nichts, einfach
raten!" Zillig sagte eine Zahl, er lag gut, und Schulze nickte
zufrieden.
Die Jägerprüfung, so pflegte Schulze zu sagen, ist schwerer
als das Abitur. Zillig hatte das anfangs unterschätzt. Zillig
war vor zwei Jahren Prokurist von Werk VII einer großen
Papierfabrik geworden. Werk VII lag in einer Kleinstadt in der
Eifel, und so hatte sich Zillig gedacht, da könne er gut
nebenbei den Jagdschein machen.
"Macht es dir Spaß, Tiere zu erschießen?"
hatte Simone gefragt. Da sie nicht arbeitete, fiel es ihr schwer,
in der neuen Umgebung Anschluß zu finden. Wenn sie wenigstens
Kinder hätten. Aber sie hatten keine Kinder, Simone saß
allein in ihrem großen Haus, und Zillig hatte das Gefühl,
daß ihr seine Leidenschaft für die Jagd nicht besonders
gefiel.
"Nein", hatte Zillig gesagt. "Das ist nicht die
Hauptsache. Es ist ein Ausgleich, ein Hobby für die Wochenenden.
Und man kann Geschäftsfreunde zur Jagd einladen. Aber die
Hauptsache ist auch das nicht." "Was denn ist die Hauptsache?"
Zillig hatte nur geschwiegen. Er wußte es selbst nicht.
Die Jägerprüfung, so stellte sich bald heraus, macht
man nicht nebenbei. Ein Jahr lang muß man jede freie Minute
mit einem Förster im Wald verbringen, so sind die Bestimmungen.
Und all das Detailwissen, von der Waffenkunde bis zum jagdlichen
Brauchtum, das geht in keinen Kopf. Aber was Zillig einmal angefangen
hatte, das zog er durch. Sein Vater war ungelernter Arbeiter gewesen.
Der Sohn hatte sich hochgearbeitet bis zum Prokuristen, ohne Beziehungen,
nur durch Fleiß. Er würde auch die Jägerprüfung
bestehen, das war mal sicher.
"Dann auf!" sagte Schulze wieder, aber es ging immer
noch nicht in den Wald. In der Jagdhütte befanden sich unzählige
Glaskästen. Das war Schulzes Sammlung. Bevor Schulze und Zillig
endlich das Haus verließen, hielt Schulze an einem der Kästen.
Wie in einem Terrarium waren darin Zweige, Herbstlaub und etwas
Moos auf dem Boden verstreut. Dazwischen lagen kleine braune Kugeln.
Schulzes gepflegte Sammlung hatte für angehende Jagdscheinprüflinge
unbestreitbaren Nutzen. Es wird nämlich vom Jäger verlangt,
daß er das Wild an den Spuren erkennt, die es im Wald hinterläßt.
Von Raubvögeln zum Beispiel findet man Gewölle, das
sind ausgewürgte Klöße von Nahrungsresten, die
sie nicht verdauen konnten. Der Fachmann kann das Gewölle
einer bestimmten Vogelart zuordnen. Verdaute Nahrung, die man
auf dem Waldboden entdeckt, wird als Losung bezeichnet. In Größe,
Form und Farbe unterscheiden sich die verschiedenen Losungen deutlich,
so daß der Jäger bestimmen kann, welche Tiere sein
Revier durchstreiften. Derart war Schulzes Sammlung: Die Glaskästen
waren, wie Schulze zu sagen pflegte, Exkrementarien.
"Wie ist die Losung?" fragte Schulze und zeigte auf
das Exkrementarium. Zillig warf einen kurzen Blick auf den Kot.
Es war nicht schwierig, die typischen Kugeln konnten nur von Hasen
oder Kaninchen stammen, die Größe zeigte den Hasen
an. Zillig entschied sich sofort. "Hase", sagte er.
"Sehr gut", sagte Schulze. "Dann auf!"
Schulze war ein wortkarger Mensch, und Zillig war das recht. Von
Schulzes Vergangenheit wußte Zillig nur aus Andeutungen.
Vor langen Jahren war Schulze aus der Zone geflohen, seine Frau
jedoch hatte die Flucht nicht überlebt. Schulze redete ungern
darüber. Er hatte eigentlich Förster in einem Stadtrevier
werden wollen, dann aber die Stelle in der Eifel angenommen. Er
war menschenscheu, und man sagte ihm nach, er sei in der Einsamkeit
seltsam geworden.
Schulze schritt schweigend voran, und nur gelegentlich machte
er eine kurze Bemerkung, flüsternd, damit das Wild nicht
aufgeschreckt wurde. Trotzdem klang seine Stimme beinahe bellend.
Schulze war vielleicht seltsam, aber er war ein guter Lehrer.
Was er einmal erklärt hatte, das behielt man im Kopf.
Für das Auge des Jägers hat alles, was im Wald zu sehen
ist, eine klare Bedeutung. Die Dinge sind Zeichen. Schulze zeigte
hier auf den zweiteiligen Abdruck eines Hufes, der auf den Hirsch
verwies, dort auf gebrochene Äste in einer Dickung, wo Schwarzwild
eingedrungen war. "Sauen", flüsterte Schulze und
benutzte seine Büchse als Zeigestock. Sie war geladen und
entsichert, was nicht den Vorschriften entsprach, und Zillig dachte
daran, daß jederzeit ein Schuß losgehen könnte,
wenn Schulze so mit dem Gewehr herumfuchtelte.
Dann bemerkte Schulze eine leere Plastikflasche. "Touristen",
sagte er abfällig und stupste die Flasche mit dem Gewehrlauf
ein Stück zur Seite. Einmal, an einem Tag, an dem er ungewöhnlich
gesprächig war, hatte Schulze Zillig von einem Traum erzählt.
Im Traum hatte Schulze einen Düsseldorfer Revierpächter
und Jagdhüttenbesitzer an einen Marterpfahl gebunden, und
vor seinen Augen seinen Jeep mit Benzin übergossen und in
die Luft gesprengt.
Das war ein Traum gewesen. Aber nicht nur im Traum war Schulze
kein Menschenfreund, und es war eigentlich erstaunlich, daß
er sofort bereit gewesen war, sich ein Jahr lang von Zillig begleiten
zu lassen.
Die beiden näherten sich einem im Laub einer Eiche verborgenen
Hochsitz am Rand einer Lichtung. Schulze ging einen Umweg um fast
die ganze Lichtung herum, um sich schließlich entgegen der
Windrichtung dem Hochsitz zu nähern, damit das Wild keine
Witterung aufnahm. Zillig trat auf einen trockenen Zweig, der
laut knackte. Ein Eichelhäher stieß seine warnenden
Rufe aus. Schulze verzog keine Miene.
Auf Ansitz saßen die beiden längere Zeit nebeneinander
auf einer Holzbank. Zillig sah durch einen Feldstecher, Schulze
benutzte das Zielfernrohr seiner Büchse und suchte damit
die Gegend ab.
Eine Weile tat sich nichts. Man mußte nun abwarten, bis
das Wild die Warnung des Eichelhähers vergessen hatte. Dann
aber stieß Schulze Zillig in die Seite. Sein Gewehrlauf
zeigte auf den Rand der Lichtung, wo ein kapitaler Hirsch aufgetaucht
war. Zillig richtete seinen Feldstecher auf den Hirsch. "Ein
Vierzehnender", flüsterte er. Schulze nickte stumm.
"Macht es dir Spaß, Tiere zu erschießen?"
hatte Simone gefragt, als ob das die Hauptsache wäre. Nein,
die Hauptsache war es nicht, aber jetzt juckte es Zillig in den
Fingern. Er würde gerne schießen. Endlich, das erste
Mal. Simone würde das nie verstehen.
"Darf ich?" fragte Zillig. Schulze begriff sofort. Wortlos
tauschte er sein Gewehr gegen Zilligs Feldstecher. Der Hirsch
stand regungslos da und sah sich um. Zillig hatte ihn genau im
Fadenkreuz. Seine Finger berührten den Abzug, sie zitterten.
Zillig bewegte den kleinen Hebel, bis er einen leichten Widerstand
spürte. Dann aber, ganz plötzlich, schien der Hirsch
zu erschrecken. Und mit einem Sprung war er im dichten Mischwald
hinter der Lichtung verschwunden.
Schulze machte eine resignierte Handbewegung. Zillig behielt die
Stelle im Auge, als hoffte er, der Hirsch könne wiederkommen.
Regungslos starrte er durch das Zielfernrohr.
Aber der Hirsch kam nicht wieder, natürlich nicht. Statt
dessen tauchten zwei Wanderer auf. Sie also waren der Grund gewesen
für seinen plötzlichen Abgang. Schulze schüttelte
unwillig den Kopf. Zillig hielt das Gewehr auf die Wanderer und
beobachtete sie durch das Zielfernrohr. In diesem Moment löste
sich ein Schuß. Es war ein einziger, kurzer Knall. Einer
der beiden Wanderer knickte mit einem gellenden Schrei zusammen.
Zillig konnte nicht erkennen, was geschehen war. Erschrocken ließ
er den Gewehrlauf sinken. "Ein Unfall", sagte er. "Nicht
wahr, ein Unfall?" Schulze zuckte mit den Achseln und nahm
Zillig das Gewehr aus der Hand. "Tja", sagte er dann
und stieg den Hochsitz hinunter. "Hahn in Ruh."
Verdammt noch mal, dachte Zillig, als er Schulze nachkletterte,
es würde nun einige Schwierigkeiten geben, das war sicher.
Zillig dachte an Werk VII, und er dachte an Simone. Er dachte
daran, daß sie Kinder haben wollten, und er dachte es so,
als sei das jetzt nicht mehr möglich. Er dachte an Verhöre,
und er dachte an Gefängnis. Unten sah er Schulze fragend
an. Der zögerte einen Moment. "So", sagte er endlich.
"Dann auf!"
Zillig hatte Mühe, Schulze in gleicher Geschwindigkeit zu
folgen. Der Förster ging mit großen Schritten voran,
nicht auf die Unfallstelle zu, sondern auf direktem Weg zurück.
"Was ist?" fragte Zillig atemlos. "Was machen wir?"
Er spürte seine Kniee zittern. "In der letzten Zeit
waren Wilderer im Revier", sagte Schulze ohne seine Schritte
zu verlangsamen.
"Wilderer?"
Schulze nickte mit dem Kopf. "Bei denen weiß man nie,
wo sie hinschießen."
Schulze und Zillig durchquerten eine Fichtenschonung. Sie gingen
abseits der Wanderwege, beinahe Luftlinie. Sie stapften durch
einen Bach, sie kletterten über einen Weidezaun. Nur einmal
hielt Schulze an.
"Da", sagte er und zeigte auf den Boden. "Na?"
"Keine Ahnung", sagte Zillig.
Schulze nahm ein Papiertaschentuch und sammelte die Exkremente
eines Tieres auf.
"Muffel", sagte Schulze. "Besonders schöne
Stücke. Zum Glück hat es nicht geregnet." Behutsam
faltete er das Taschentuch zusammen. "Übrigens, die
Büchse." Schulze hielt das Taschentuch in der linken
Hand, mit der rechten gab er Zillig seine Waffe. "Die schenke
ich Ihnen."
"Das kann ich nicht annehmen", sagte Zillig. Es war
ein wertvolles Stück.
"Ist schon gut", sagte Schulze. "Es ist nicht meine
einzige. Ich will sie Ihnen schenken." Er sah Zillig an,
so wie sich Männer ansehen, die ein Geheimnis miteinander
haben. "Aber lassen Sie sie noch eine Weile im Schrank."
Zillig hängte sich das Gewehr um die Schulter, Schulze nickte
mit dem Kopf. Beide schwiegen.
Nach einer Weile sagte Zillig: "Muß man sie präparieren?"
"Die Büchse?"
"Die Losung", sagte Zillig. "Die Muffellosung."
"Nachher muß sie noch ein bißchen in der Sonne
trocknen", sagte Schulze. "Das ist alles." Er ging
weiter, das Taschentuch trug er an den Zipfeln vor sich her.
Muffelscheiße, dachte Zillig und lachte leise über
den Ausdruck. Muffelscheiße!
"Schüsseltreiben!" rief Schulze, als sie vor der
Tür seiner Jagdhütte standen. Das Ritual blieb sich
immer gleich. Schulze lud Zillig zu einer Erbsensuppe ein. "Aber
zuvor noch eine kleine Prüfung?"
Zillig hatte Schulze im Laufschritt eingeholt. "Ja",
sagte er schnaufend. Das Gewehr an seiner Seite wippte.
"Also herein", sagte Schulze.
Der Förster legte das Taschentuch mit dem Muffelkot zum Trocknen
offen auf den Balkon. Dann führte er Zillig an eines seiner
Exkrementarien und sah ihn prüfend an. "Und? Wie ist
die Losung?"
Zillig betrachtete den dunklen Haufen. "Hund?" sagte
er. Schulze schüttelte den Kopf. "Schaf?" sagte
Zillig. Er mußte raten, denn die Bestimmungsmerkmale waren
nicht eindeutig. "Vielleicht etwas Exotisches? Antilope?
Känguruh?" "Nein", sagte Schulze. "Das hier",
sagte er, wobei sein Zeigefinger bohrend auf die Scheibe drückte,
"das hier", er machte eine übertrieben lange Kunstpause,
"das hier ist die Krone." Und als Zillig immer noch
nicht begriff: "Die Krone der Schöpfung."
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