| Andreas Reikowski
 Die Wahl war auf mich gefallen. Ich sollte meinen 
                Schwiegervater, den wir immer Veddi nannten, da rausholen. Der 
                Beerdigungsunternehmer, den ich anrief, hörte sich sehr hilfsbereit 
                mein etwas delikates Anliegen an, bedauerte aber, momentan von 
                Personalproblemen geplagt zu sein; hohe Krankenstände, wissen 
                Sie, bei dem Wetter, da soll man gesund bei bleiben, nicht wahr? 
                "Und würde es Ihnen etwas ausmachen, dabei kurz mit 
                anzupacken, nur eben in den Sarg, Sie sind doch der Sohn?"
 "Nein, nur der Schwiegersohn", sagte ich. "Meinen 
                eigenen Vater kenne ich nicht. Er - Aber was geht Sie das eigentlich 
                an?"
 Ich stand vor der verschlossenen Tür der Anatomischen Fakultät 
                der Universitätsklinik, die in einem großen Park nahe 
                der Innenstadt angelegt war. Es war ein heller Zweckbau mit freundlich 
                großem Eingangsbereich, jedoch mit schlitzartigen, lauernden 
                Fenstern. Ungeduldig trat ich von einem Fuß auf den anderen. 
                Der Bestatter wollte längst da gewesen sein. Ich rüttelte 
                schon wieder am Türknauf, mir war kalt, seit Tagen hatten 
                wir Nebel. Das ideale Wetterchen zum Sterben, wie Veddi vor kurzem 
                noch gefunden hatte. Da ging es ihm schon schlecht - oder war 
                es sein Galgenhumor? Über die Straße war er gegangen 
                und umgefallen: weg.
 Auf dem Rasen gegenüber hatte eine Amsel gerade einen Wurm 
                aus der Erde gepickt, als eine weitere angeflattert kam und Streit 
                anfing. Überrascht war niemand, als wir sein Testament lasen, 
                weder Muddi noch meine Frau. Veddi hatte seinen Körper 'der 
                Medizin' vermacht, deshalb war er dann auch so schnell verschwunden. 
                Er wollte keine Würmer im Bauch haben. Deshalb.
 Und gründlich, wie Veddi zeitlebens war, muss er auch in 
                der Uniklinik eine Art Vollmacht hinterlassen haben: damit es 
                schnell geht und noch etwas von ihm zu gebrauchen ist, wie er 
                schrieb. Doch dann hatte Muddi das endgültig neueste Testament 
                gefunden, und darin wollte Veddi alles wieder rückgängig 
                machen und nun doch unter einer Eiche auf dem Friedhof liegen 
                - und zwar in einer Urne.
 Veddi hatte sein Leben lang immer wieder Testamente geschrieben, 
                zusammen mit einem ausführlichen Rückblick auf seine 
                Erlebnisse jedes Jahr. Nachdem er seinen ersten Infarkt überlebt 
                hatte, hinterlegte er jeden Monat eines bei Muddi, und als er 
                auch der zweiten Attacke getrotzt hatte, schrieb er beinahe wöchentlich 
                seinen neuen Letzten Willen. Im Wesentlichen verteilte er seine 
                Gartengeräte: ich die Sense, meine Frau die Sichel und Muddi 
                die Häufelhacke. Oder Muddi den Rechen, meine Frau die Sense 
                und ich die Sichel. Und so weiter.
 Das mit den Würmern im Bauch tauchte recht spät auf, 
                zusammen mit Laune, seinen Körper der Universität zu 
                schenken. Kann sein, dass ihm nichts anderes mehr eingefallen 
                war.
 Als der Totenwagen bremste und ich sah, wer als Bestattungsuntemehmer 
                verkleidet aus dem dunkelgrauen Opel stieg, glaubte ich meinen 
                Augen nicht. Die Nackenhaare sträubten sich, es kribbelte, 
                es knisterte, und es griff mir auf den Schädel über, 
                er war es wirklich: mein früherer Chef, der Vorsteher des 
                Hauptpostamtes, Oberamtsrat Hoyer.
 Er öffnete geschäftig die Heckklappe und zog auf dem 
                eingebauten Schlitten den Zinksarg heran. Schon damals steckten 
                seine Hände in Lederhandschuhen, und sein Kopf duckte sich 
                unter einer tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze.
 Sie hatten ihn frühpensioniert; er war noch keine fünfzig 
                Jahre alt. Privates Zeug, wie man so tratschte, hatte bei ihm 
                eine Art Schluckauf verursacht, drin im Kopf, oben in den Windungen: 
                Verfolgungswahn. Er rannte zum Schluss nachts auf dem Postamt 
                herum und rückte Schranke und Tische von den Wänden 
                ab, weil er nach möglicherweise heruntergefallenen Briefen 
                fahndete. Oder er trat an die Postsäcke, griff sich eine 
                beliebige Sendung heraus und schaute, ob die Zacken alle unversehrt 
                waren an den Briefmarken, ach ja, Postwertzeichen heißt 
                es, darauf pflegte er bei jeder Gelegenheit zu bestehen. Und wehe...
 Mich hatte er mal beim Radiohören erwischt. Mein Gott, um 
                die zwanzig war ich da gewesen. Und während einer Nachtschicht 
                werden die Stunden besonders lang, wenn man nur die Briefe in 
                die Säcke zu werfen hat: acht null hinten rechts, eins ganz 
                links und hopp.
 Und dabei Radio hören? Nicht bei ihm. Nicht bei Oberamtsrat 
                Hoyer.
 Deshalb also war mir seine Stimme am Telefon so bekannt vorgekommen 
                - diese Art, kaum dass ich mich gemeldet hatte, schon zu schnarren:
 " Wer ist da bitte?"
 Anfang zwanzig war ich, wie gesagt, kaum aus der Schule raus damals 
                und schon Nachtschichten. Und ohne Vater war ich aufgewachsen, 
                ach, lange her, was soll's.
 Hoyer wollte gerade an mir vorbeieilen, als er merkte, dass ich 
                ihm die zwei Stufen entgegengekommen war. Ich hatte meine Hand 
                schon fast ausgefahren, als ich mich doch noch besann. Weiß 
                ich denn, wen und was er alles angefasst hat.
 "Herr Hoyer? Sie?"
 Er blieb stehen. Die Amseln hinter seinem Rücken stoben zeternd 
                davon. Zum ersten Mal sah er mich wirklich an. Sonst pflegte er 
                an den Menschen, mit denen er sprach, vorbeizusehen oder durch 
                sie hindurch, ist das Ihr Radio?
 Und nun sah ich seine graublauen Augen, sah in sein älter 
                gewordenes Gesicht; es kam mir größer vor als früher. 
                Gleichfalls grau, Sie wissen doch, dass Sie das nicht dürfen. 
                Schon gar nicht während der Nachtschicht! Ich hab's nicht 
                in böser Absicht getan.
 Das glaube ich Ihnen nicht, nicht Ihnen!, hatte er mit rotem Kopf 
                geschrien.
 Ja, gesehen hatten wir uns schon, auch ihm dämmerte etwas, 
                ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Ich nahm mir aber 
                vor, mich nicht zu erkennen zu geben. Man hat ja manchmal Eingebungen, 
                auf die man später stolz ist, und stolz sind Menschen auf 
                die eigenartigsten Dinge.
 "Kennen wir uns nicht?"
 "Wir haben telefoniert."
 "Nein, ich meine: ob wir uns nicht irgendwo schon mal gesehen 
                haben?"
 "Wir? Uns?", lachte ich künstlich. "Tut mir 
                leid, aber ich bin noch nie gestorben."
 Er sah, Mehltau im Blick, wieder an mir vorbei und holte Atem. 
                Noch bevor er etwas sagen konnte, klapperte an der Tür ein Schlüsselbund 
                von innen an die Scheibe. Die Verwalterin der Anatomischen Fakultät 
                war unbemerkt erschienen und hatte die Tür aufgeschlossen. Mit 
                einer Flasche Milch in der Hand hieß sie uns wortreich willkommen 
                und entschuldigte ihre Verspätung mit dem langen Telefongespräch, 
                das sie unseretwegen noch mal mit dem Herrn Professor geführt 
                hat, um ganz sicher zu gehen und damit nun auch alles in Ordnung 
                ist, denn so was ist ja noch nie passiert und der Herr Professor 
                lässt sagen, dass es ihm leid tut. Dabei lächelte sie 
                und auf ihren Wangen bildeten sich Grübchen.
 Ich ließ Hoyer den Vortritt. Gelernt ist gelernt. Ruhig 
                rasselte er den Klappwagen mit dem Sarg darauf ins Foyer und zum 
                Fahrstuhl. Die Verwalterin, stämmig gebaut, mit kräftigen 
                Armen, plauderte ununterbrochen, während sie vorging und 
                die Milchflasche schwenkte. Und wie peinlich das doch alles ist, 
                seufzte sie, und wie schade, so ein schönes Exemplar mit 
                so brauchbaren Lungen, in dem Alter und dann Nichtraucher, und 
                so schade ist es ums Herz, hat der Professor gesagt, ein typischer 
                Hinterwandinfarkt, auf einem EKG praktisch nicht zu erkennen; 
                einen Tag später, und die Drittsemester hätten sich 
                darüber hergemacht, die kriegen nämlich immer die frischen; 
                "aber - verstehen kann ich es", sagte sie zu mir, "Sie 
                als Sohn."
 Ich stand ihr im Fahrstuhl gegenüber, nur der Zinksarg, in 
                den Veddi gleich hineinkommen sollte, stand zwischen uns. Ich 
                sah sie steinern an.
 "Ich bin - der Schwiegersohn."
 Hoyer las die Zahlen auf den drei Knöpfen. Die Schiebetüren 
                klapperten verhalten.
 Im Raum mit den Wannen, in denen die Toten zunächst zwischengelagert 
                werden, wie uns die Verwalterin sagte, war es nicht kühler 
                als draußen. Hohe gekachelte Wände, sehr sauber, nur 
                an der Decke zwischen den runden Oberlichtern einige fettige Flecken. 
                Die Wannen in die Wände eingemauert, etwa doppelt so lang wie 
                eine gewöhnliche Badewanne und hüfthoch, teilweise versehen 
                mit Blechdeckeln. "Aus Pietät", zischelte die Frau 
                mir zu. Die Wannen ohne Deckel waren demnach leer, man sah nur 
                die spiegelnde Oberfläche der öligen Flüssigkeit, 
                mit der sie gefüllt waren. In der Mitte des Raumes stand 
                auf dicken Beinen ein feuchtglänzender Marmortisch, darunter 
                befand sich ein Ausguss. Klebrigschwer hing der Leichengeruch 
                in der Luft, gemischt mit Formalin und Spiritus.
 Die Verwalterin stellte die Flasche mit der Milch auf einen gemauerten 
                Sims bei der Tür, "bei uns ist der Kühlschrank nämlich 
                ausgefallen und warum denn nicht? Im Sommer sitze ich auch manchmal 
                hier und stricke", sagte sie. "Wenn es sehr heiß 
                ist, kommen auch die Studenten vom Präp-Kurs herein und bringen 
                sich Stühle mit."
 Hoyer und ich vermieden Blickkontakt. Ich vermisste eine Wanduhr 
                und versuchte zu erraten, in welcher Wanne Veddi liegen würde.
 Die Frau zog einen Zettel aus der Kitteltasche, glättete 
                ihn sorgfältig und las.
 "Ziehen Sie sich besser auch Schürzen an", sagte 
                sie plötzlich und sah auf. Sie deutete auf Haken an der anderen 
                Seite der Tür. Störrisch legte sich die Gummischürze 
                mir um den Leib. Hoyer keuchte leise bei dem Versuch, sich seine 
                hinten zuzubinden.
 "Und denken Sie an die Handschuhe", mahnte sie, während 
                sie ihre gummiverhüllten Finger bereits spreizte. "Zwischen 
                den Fingern kriegen Sie den Gestank sonst nicht weg."
 "Doch", widersprach Hoyer und verstaute seine Lederhandschuhe 
                ruhig in der Manteltasche. "Essig und Zitrone mit Handwaschpaste. 
                Das hilft!" Die Verwalterin überhörte es, weil 
                sie nach einem armlangen Rohrstock griff, der an einem Ende dunkel 
                angelaufen war. Damit stocherte sie in einer Wanne voll schwarzem 
                Alkohol, bis der erdfarbene Leib einer männlichen Leiche 
                zögernd hochgetrieben kam. Geschickt griff sie nach dem Fuß 
                und hatte schon den daran hängenden Zettel in der Hand.
 "Ach, wie ungeschickt von mir! Er muss ja oben schwimmen, 
                er ist ja erst von neulich", sagte sie und lächelte 
                mit ihren Grübchen Hoyer an. Geräuschlos versank der 
                fremde Leichnam in der dunklen Tiefe der Wanne. Ich dachte an 
                die Beerdigung, um die ich lange herumgekommen zu sein glaubte 
                und die meiner Frau und Muddi nun plötzlich doch noch bevorstehen 
                sollte: das schwarze Herumstehen vor der Kapelle, das Gebimmel. 
                Und mit Hoyer würde ich den Ablauf zu besprechen haben, Sarg 
                Esche natur oder Eiche mit Messinggriffen? Samtbezug? Leinen? 
                Was ist Ihnen Ihr Vater wert, pardon, ich vergaß? Und welches 
                Blumengedeck? Musik gefällig? Zahlen Sie per Scheck? Karte 
                geht auch.
 "Hier wird er stecken", freute die Verwalterin sich 
                und hob den Deckel einer anderen Wanne gegenüber an. Dabei 
                verlor sie die Kontrolle über das Ding; es knallte und schepperte 
                nur so, als der Deckel auf den Fliesen landete. Vor Schreck wusste 
                mein Herz nicht, ob rauf oder runter im Brustkorb. Auch Hoyer 
                stöhnte unterdrückt. Dann kam er der Frau zu Hilfe und 
                packte kräftig mit an. Das wollte gar nicht zu dem müden 
                Zug um seine Augen passen, so müde waren sie, und ich hatte 
                mich vor ihnen damals gefürchtet. Und dabei hatte ich nur 
                ein bisschen Güte gesucht bei einem Mann mit grauen Haaren.
 Da schwamm Veddi. Nur mit einem Fußzettel bekleidet, war 
                sein Körper nicht so dunkel wie die der anderen Leiche, er 
                war blasslila, mit viel kleinerem Kopf als zu Lebzeiten. Sein 
                Körper wirkte wie gekocht; aberwitzig aufgedunsene Beine, 
                dazwischen ein scheinbar angeklebtes Geschlecht, eingefallene 
                Brust: Ich sah ihn zum ersten Mal nackt. Sein Gesicht hatte keinen 
                Ausdruck, den ich kannte, mir kam er vor wie ein Fremder, der 
                da allein in seiner Wanne trieb. Nur noch ein Buchstabe und eine 
                Zahl wiesen ihn aus auf dem Zettel aus Plastik mit eingestanzten 
                Ziffern; klar: in dieser Brühe überlebt nicht einmal 
                ein Name. Das war nicht der, der mich zum ersten Mal ins Fußballstadion 
                mitgenommen hatte, los komm, mal ohne Weiber, ich lad dich ein, 
                willste Bier? Der mir vorletztes Jahr Skat beigebracht hat. Der 
                mich eine Sense zu führen gelehrt hat. Der ... mir wirbelten 
                die Bilder im Kopf, ich schloss die Augen. Nicht, dass ich mir 
                was mache aus Fußball und Skat, ich mein, ach Scheiße.
 Hoyer gab die Anweisungen: so und so. Sie packen jetzt da an. 
                Und hopp. An den Fersen, habe ich gesagt. Na los.
 Veddi da rauszuholen war nicht ganz einfach: er war rutschig, 
                seine Haut gab nach, man konnte sie eindrücken, dennoch blieben 
                seine Gliedmaßen steif.
 Und ich wieder Anfang zwanzig? Die letzten Jahre Lebenserfahrung 
                plötzlich für die Katz in diesem Kachelraum? Und ich wehrlos 
                gegen die schwelende Wut, die Hoyer wieder anblies; warum es ihm 
                gelang, mich erneut nach all den Jahren zusammenzufalten, dass 
                ich bequem unter der Tür hindurchgepasst hätte ...
 Veddis Arm ragte starr ab und wollte nicht passen. Als Hoyer ihn 
                in den Sarg zwängte, knackte er wie ein Ast im Frost, während 
                ich Veddi am anderen Arm festhalten musste. Er fühlte sich 
                an wie mein eigener, wenn ich nachts aufwache und so lange auf 
                ihm gelegen habe, dass alles Blut aus ihm gewichen und er ganz 
                abgestorben ist und mir nicht mehr gehorcht. Ach Veddi, warum 
                konntest du nicht mein Vater sein - warum war es einer, der auf 
                und davon ging für immer?
 Hoyer schlug behutsam die Heckklappe des Opels zu.
 "Soll ich Sie nicht mitnehmen?" fragte er. Die Atemwolken 
                standen ihm vor dem Mund. Es ließ ihm offenbar keine Ruhe. 
                Mir war es recht, mein Bus wäre ohnehin erst in einer halben 
                Stunde gefahren. Und durchgefroren war ich außerdem.
 Die schwarzen Flächen unter der Windschutzscheibe glänzten 
                vom Cockpit-Spray.
 Hoyer startete und lenkte den Wagen auf die Stadtautobahn, auf 
                der er trotz Nebel sanft beschleunigte und in die Überholspur 
                schwenkte.
 Ich hatte jetzt Lust, mich zu erkennen zu geben, um ihn zu erlösen, 
                hallo, ich bin der, dem Sie damals wegen des Radios das Disziplinarverfahren 
                reingewürgt hatten, und kurz darauf hat man Sie aus dem Verkehr 
                gezogen, wissen Sie noch? Das Verfahren verdarb mir die Karriere 
                und trieb mich auf andere Dienststellen in fremde Städte, 
                das war noch ihr Werk, wissen Sie? Fällt jetzt der Groschen? 
                Lassen Sie uns von alten Zeiten reden, au ja, dann wird uns warm 
                ums Herz!
 Statt dessen fing er tatsächlich mit den Verkaufsverhandlungen 
                an; es ging um Esche und Eiche, um Samt und Leinen. Draußen 
                wischte die gleichgültig dreinschauende Stadt vorbei. Und 
                statt meinerseits zu schweigen, stach ich ihn mit ein paar Fragen 
                zu seinem Beruf an, nur damit er endlich aufhörte mit seinen 
                Messingbeschlägen. Er drückte sich gemütlich in 
                den Sitz und plapperte wie freigelassen los: Dass er diesen Job 
                noch nicht lange macht und dass ihm seine Abfindung diesen Einstieg 
                ermöglicht hat, "denn die habe ich damals bei der Post 
                bekommen, ich war da nämlich Vorsteher, müssen Sie wissen. 
                Vorsteher des Hauptpostamtes."
 Jetzt hast du ja den idealen Job, dachte ich musste innerlich 
                schmunzeln. Briefmarkensammeln wird dich ja auf Dauer nicht auslasten, 
                und selbst eine fette Pension kann schnell knapp werden, wenn 
                man zuviel Zeit hat und zuwenig zu tun. Und was deine Klienten 
                angeht: die widersprechen wenigstens nicht, oder? Die kannst du 
                rumkommandieren, von denen fürchtet sich keiner mehr vor 
                dir.
 Es machte mir Spaß, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen, 
                so wie er mich damals hatte zappeln lassen, als er nicht damit 
                rausrückte, auf welche Art er mir den Kopf abreißen 
                wollte nach meinem Dienstvergehen. Als mir vorhin die Verwalterin 
                den Zettel gereicht hatte, auf dem ich quittieren sollte, hatte 
                Hoyer sich fast den Hals verrenkt, um meinen Namen lesen zu können. 
                Ich hatte jedoch den Namen meiner Frau angenommen, denn ich wollte 
                nicht so heißen wie mein Erzeuger, der meine Mutter kurz 
                nach meiner Geburt sitzen gelassen hatte, klein, wie ich war.
 Und plötzlich sagte Hoyer, starr auf die Fahrbahn blickend: 
                "Das Schlimmste ist, dass einem niemand mehr die Hand gibt. 
                Auch Sie haben mir vorhin nicht die Hand gegeben. Habe ich Ihnen 
                denn etwas getan?"
 Ich musste lächeln. Jetzt bist du reif, Freundchen, schwoll 
                es in mir. "Sammeln Sie eigentlich noch Briefmarken, Herr 
                Oberrat Hoyer?"
 " Postwertzei...", wollte er gerade verbessern, 
                doch dann stockte ihm der Atem. So hatte ich es erwartet. Plötzlich 
                wandte er den Kopf von der Fahrbahn ab und bohrte mit den Augen 
                in meine Richtung. Das hatte ich nicht erwartet. Und auf dem Tacho 
                mindestens hundert Sachen drauf!
 "Sie!" schrie er. "Dann kenne ich Sie also doch! 
                Sie! Und dieser freche Tonfall die ganze Zeit! Natürlich 
                Sie!"
 Ich sah die aufflammenden Bremslichter vor uns und das Ende der 
                im Nebel sich verlierenden Autoschlange, und Hoyer bremste wohl 
                auch noch, aber es war zu spät. Ich starrte nach einer kurzen 
                Bildstörung auf das plötzlich schief- und stillstehende Außenbild, 
                hörte den Motor irrwitzig aufheulen und dann erst den lähmenden 
                Knall, der der Wucht des Aufpralls folgte. Ich wusste nicht, woher 
                das viele Blut kam und die Flamme, die ich aus der aufgeplatzten 
                Motorhaube lodern sah. Das Blut aus dem eigenen Kopf? Der Sarg 
                mit Veddi drin hatte die Wand zum Fahrerraum durchbrochen und 
                Hoyer den Schädel durch die Scheibe gedrückt. Ich sah 
                es noch im Augenwinkel, bevor ich auf das Autobahnbegleitgrün 
                schaute, halb Tränen, halb Flammen im Blick, und ich dachte 
                noch, und ich musste lächeln, ich dachte an Veddi: zum Glück 
                keine Würmer im Bauch.
 Dann wurde mir wieder kalt.
 Und dann wurde es Nacht.
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