Familien- und Zeitgeschichte
Joachim Feldmann
Am 11. September 2001 lenken islamistische Terroristen gekaperte Linienflugzeuge in das World Trade Center und das Pentagon. Mehr als 3.000 Menschen sterben. Die weltpolitischen Folgen der Anschläge sind bis heute kaum absehbar. Wenn eine Autorin dieses historische Datum wählt, um einer Romanfigur einen entscheidenden Schicksalsschlag zu versetzen, kann man von einer programmatischen ästhetischen Weichenstellung sprechen. Franziska Gerstenbergs zweiter Roman Obwohl alles vorbei ist verknüpft eine Familiengeschichte, die bis in die unmittelbare Gegenwart führt, eng mit dem Zeitgeschehen und lotet die unbedachten Konsequenzen individueller Entscheidungen aus. Und das auf sehr konkrete Weise.
Wie sich Charlotte und Simon Anfang des Jahrtausends in Berlin kennenlernen, könnte den Stoff für eine romantische Komödie hergeben, würde die Handlung nach den ersten gemeinsam verbrachten Nächten enden. Aber nicht, wenn eine Alltagsrealistin wie Franziska Gerstenberg die Geschichte in die Hand nimmt. Zehn Jahre später wohnen die beiden mit zwei Kindern, aber getrennt voneinander in Charlottes Elternhaus in Dresden. Pinselstriche auf dem Fußboden markieren die Grenze zwischen den jeweiligen Lebensbereichen. Das ist längst nicht so komisch, wie es sich anhört, sondern illustriert ein Verhängnis, dessen tragischer Ausgang unabwendbar erscheint. Dass der Roman dennoch nicht wie eine klassische Tragödie endet, ist ein weiterer meisterlicher Erzählzug der Autorin, der die Lektüre allerdings nicht weniger verstörend geraten lässt. Was hier geschildert wird, geht uns etwas an. Und dieser Eindruck der Zeitgenossenschaft ist nicht zuletzt dem virtuosen Rückgriff auf literarische Traditionen geschuldet.
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