Am Erker 84

Frederike Frei: Wasser - geometrischer Ort der Sehnsucht

 
Rezensionen

Frederike Frei: Wasser - geometrischer Ort der Sehnsucht
 

"Das Meer kennt nur sich selbst"
Pia Soldan

Tropfen für Tropfen fällt eine Miniatur ins Auge, dringt ins Hirn, rinnt durch die Blutbahnen ins Herz. Manchmal, gar nicht so selten, rutscht sie noch etwas tiefer Richtung Vulva und weiter bis zu den nackten Füßen. Körpersäfte aber braucht Frederike Frei nicht, um ihre Miniaturensammlung Wasser zum "geometrischen Ort der Sehnsucht" zu machen, wie das Büchlein untertitelt ist.
Dieser Sammlung hat der Achter Verlag ein bibliophiles kleines Hardcover mit Leinenbindung gegeben, begleitet von Aquarellen von Jessica Füllenbach, die die verbalen Bedeutungsebenen aufgreifen oder sie mit ganz neuen Wassergedanken aufladen.
Da fallen Regenherzen aus der wasserfarbenen Wolke, umgekehrt, versteht sich, denn wie eindimensional erscheint das Herz als bloßes Kinder-, Kitsch- und Valentinssymbol vor dem Hintergrund des Eisenhans, der am Boden der "Waldseen seiner Augen" sitzt, die das Ich "ziehen und ziehen" mit paradiesischen Versprechen. So "lockt" das Wasser mitten ins Verderben, immer wieder, selbst den Himmel lockt der See "mit der Aussicht auf das Ende der Welt". Noch besser kann es das Meer, denn "an der See liegt er frei", der Horizont, als "letale Nulllinie, die keine Ausschläge mehr liefert", hinter die du nicht schauen kannst, der "Horizont ist der Tod". Die nasse (Un-)Endlichkeit dafür bestrafen oder sich nur an ihre Taten erinnern zu wollen, ist von vornherein sinnlos, denn "keine blaue Seidenhaut kannst du abziehen von ihm, dir keine Scheibe abschneiden und auf den Schreibtisch legen".
Wasser ist Macht, "der See ein Millimeterdiktator, Gerechtigkeitsfanatiker, peinlich genau darauf bedacht, niemanden hochkommen zu lassen. Jedes Tal, jede Kuhle muss ausgefüllt, jeder Hügel eingeebnet werden". Umso bedrohlicher erscheint es da, wenn die Oberfläche nicht länger aus­geglichen ist, sich aufbäumt, geradezu "über sich selbst herfällt" und "einen weißen Schaumteppich zur Musterung vor meinen Füßen ausbreitet, als ob ich ihn kaufen soll".
Außerdem benötigt eine Miniaturensammlung nicht unbedingt Kongruenz der Texte untereinander. Wo er einst das große Ende war, kann der Horizont so in ein und demselben Bändchen "für uns die Linie ins Un­end­liche" sein, "nicht der Strich durchs Leben wie für andere". Was aussieht wie ein Fischernetz aus Widersprüchen, ist vielmehr der Blick auf den Facettenreichtum ein und desselben Nicht-Dings: "Das Meer kennt nur sich selbst. Es atmet ein und aus, das ist alles." Wie wunderbar, dass das Werten wegfällt.
Wer Schubladen sucht, wird sie in dieser kleinen blauen Wohnung ohne Wände, dafür mit blauem Lesebändchen und dem schwarzen Loch in der Strudelmitte - erneut eine Kreation der Illustratorin Füllenbach - nicht finden. "Dort kann man das Fürchten lernen vor allem Neuen, wenn man will." Wer Schubladen braucht für das stringente Lesen, sollte umziehen zu einer anderen Autorin.
Denn Frei entscheidet sich nur gelegentlich für kleine Anker, die da als Überschriften "Traunsee", "Wattenmeer" oder "Amrum" heißen, bereitet nur denen ein Bett, die bereit sind, es sich mit einer ihrer Erzählerinnen gemeinsam unter den Arm zu klemmen und loszuwandern, ziellos zum Wasser, hinweg oder mittendurch. "Die Buddhisten vergleichen diesen Moment, in dem das Meer vor den Augen auftaucht, mit der Tuchfühlung zum Nirwana", und so wenig das Ich des Was­serflächentuchs habhaft werden kann, so wenig lassen sich Grenzen für das Nirwana definieren. Wassergedanken kommen ohne Ränder aus, und Konturen zerfließen zurück zur "abgrundtiefblaugrünen" Freiheit der Literatur.

 

Frederike Frei: Wasser - geometrischer Ort der Sehnsucht. Miniaturen. Illustrationen von Jessica Füllenbach. 115 Seiten. Achter. Weinheim 2022. € 16,00.