Bewegte Tage
Georg Deggerich
In Amerika ist Anatole Broyard, langjähriger
Kritiker, Kolumnist und Herausgeber der New York Times,
längst eine feste Größe. Deutschen Lesern muß
er im Klappentext erst noch mit dem vollmundigen Hinweis empfohlen
werden, er habe sich im New York der Nachkriegszeit mit einer
Gruppe junger Leute zusammengetan, "um die Literatur und
die Sexualität neu zu erfinden". Verschwiegen werden
soll in diesem Zusammenhang auch nicht die dem Autor attestierte
"stilistische Klarheit, die den Leser Satz für Satz
erregt und erhellt". Soweit die Vorschußlorbeeren.
Wahr an alledem ist, daß Broyard in Verrückt nach
Kafka auf die Zeit zurückblickt, die er 1946 als 26jähriger,
frisch aus der Armee entlassener GI im New Yorker Künstlerviertel
Greenwich Village verbrachte. Bevor sich gleich auf so große
Themen wie die Neuerfindung von Literatur und Sexualität
zu verlegen, wird Anatole Broyard einem weit weniger dramatischen
Nachholbedürfnis gefolgt sein. Unstrittig hingegen ist, daß
er zur fachkundigen Unterweisung in Kunst und Sexualität
keine bessere Wahl hätte treffen können als Sheri Donatelli,
eine junge Malerin und Schützling von Anais Nin, die uns
der Autor treffend als "Verkörperung der neuen Trends
in Kunst, Sex und Psychose" vorstellt.
Von ihr erfährt Broyard nicht nur über die neuesten
Entwicklungen in Kubismus, Surrealismus und abstraktem Expressionismus,
sondern wird auch über ein zeitgemäßes Verständnis
von Sexualität aufgeklärt, das auf die knappe Formel
hinausläuft, Sex als "eine Spielart der modernen Kunst"
zu betrachten. Als gelehriger Schüler erscheint ihm Sheri
schon bald als Verkörperung von Duchamps Akt eine Treppe
herabsteigend, während ihm zur Beschreibung des Liebesakts
nur noch die von Lautréamont geprägte und durch die
Surrealisten zu einiger Berühmtheit gelangte Formel vom "zufälligen
Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Schirms auf einem
Operationstisch" einfällt. Oder, wie Broyard in einem
weniger kunstsinnig gestimmten Moment bekennt: "Sex mit Sheri
war ein Feld der Verwüstung."
Man könnte die Begegnung dieses ungleichen Paares als amour
fou abtun, wären nicht alle anderen im Buch auftretenden
Personen in ähnlicher Weise grotesk überzeichnet. Der
unglückliche Delmore Schwartz etwa erscheint als linkischer,
weltfremder Kauz, mit dem schon ein Anzugskauf zur mittelschweren
Katastrophe gerät, William Gaddis tritt als wortgewaltiger
Verführer in Erscheinung und Dylan Thomas' Frau Caitlin hat
einen denkwürdigen Auftritt als Furie und männermordender
Vamp. Verrückt nach Kafka als zeitgeschichtliches
Porträt zu lesen, hieße die eigentliche Absicht des
Buches zu verkennen. Es handelt sich vielmehr um die sehr persönlichen,
oftmals komischen und selbstironischen Erinnerungen eines fast
Siebzigjährigen, der aus vierzig Jahren Abstand auf bewegte
Tage seines Lebens zurückblickt. Der leichte, unbeschwerte
Ton ist nicht das geringste Verdienst dieses Buches. Noch während
der Arbeit starb Anatole Broyard 1990 an Krebs.
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