Abgründe des Alltags
Joachim Feldmann
Wenn im ersten Satz einer Geschichte etwas aus
einer Ritze im Parkett krabbelt, weiß der Leser schon, daß
es hier nicht um einen Fall geht, den der Einsatz eines Kammerjägers
lösen könnte. Die Käferplage, die eine junge Frau
in der frischbezogenen Wohnung heimsucht, ist von anderer Natur.
Sie zeugt vom Tod, der in diesen Wänden zu Hause war, und
läßt sich nicht mit Hilfe von "Pulver, Kügelchen,
Sprühzeug" bekämpfen.
In einer anderen Geschichte wird der Erzähler daran gehindert,
ein länger gehegtes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Worum
es sich dabei handelt, erfahren wir nicht. Stattdessen werden
die Umstände, die ihn von der Durchführung seines Plans
abhalten, minutiös geschildert, und es ist ziemlich wahrscheinlich,
daß es sich hier um Dinge handelt, die sich ausschließlich
im Kopf des Protagonisten abspielen. Obwohl, sicher ist auch das
nicht. Am Ende der Geschichte weiß der Erzähler selbst
nicht mehr, was es eigentlich war, das er an diesem Tag hatte
tun wollen.
In den Geschichten, die der 1969 geborene Autor Markus Orths unter
dem Titel Wer geht wo hinterm Sarg? vorgelegt hat, geht
es selten mit rechten Dingen zu. Das Unheimliche nistet in den
Ritzen unseres Alltagslebens wie die Käfer im Parkettfußboden.
Gewöhnliche Verrichtungen bekommen groteske Dimensionen,
und das Phantastische steht gleichberechtigt neben dem Gewöhnlichen.
Orths ist ein Erzähler, der sich daran gemacht hat, die Abgründe
des menschlichen Bewußtseins sprachlich auszuloten, ohne
dabei wie die alten Recken der literarischen Moderne eine möglichst
genaue Abbildung mentaler Vorgänge anzustreben. Hier regiert,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Sprache souverän ihren
Gegenstand. Unheimlich ist das Dargestellte und nicht die Darstellungsweise.
Ein solches Erzählen hat nichts mit dem Raunen gängiger
Schauergeschichten zu tun, sondern steht in einer langen, ehrenwerten
Tradition, die mit der Geschichte von der Verwandlung des Handelsreisenden
Gregor Samsa einen ihrer Höhepunkte erreicht hat. Manchmal
meint man sogar, in Orths' Geschichten wie von Ferne die
Stimme Kafkas zu vernehmen, ohne daß sie dadurch epigonal
wirkten. Diese Erzählsammlung ist das außergewöhnliche
Debüt eines traditionsbewußten, aber durchaus eigenständigen
Autors. Man sollte es nicht verpassen.
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