Am Erker 86

 
Texte
Am Erker 86, Münster, April 2024
 

Gisela Trahms
Dunkelheit

Sie lebt ein Leben, das geschmeidige Nerven erfordert (drei Kinder, knappes Geld, empfindlicher Mann). Frühes Aufstehen morgens, Hoffen auf rasches Gelingen abends unter der Dusche, zweites Zackduschen hinterher und dann ein Seufzer und tiefer, tiefer Schlaf. Viele Menschen leben so, einer­seits geschützt, andererseits eingeschnürt, aber dass sie, ausgerechnet und nach ganz anderen Lebensplänen, jeden Tag und Jahr um Jahr so lebt, ist dann doch eine Überraschung. Disziplin gehört dazu, klarer Blick und rasches Begreifen, und damit auch die Kinder das korrekte Tempo gewinnen, nimmt sie sie mit auf die Laufstrecke am Kanal, lehrt sie, frische Luft und Frühlingsgrün zu schätzen, und verschweigt, was sie von sich weiß: dass in ihrem Rennen noch das Wegrennen steckt, das Bloß fort! und Getriebensein, der Sprung ins Abenteuer, das dann kein Abenteuer wurde. Die eigene Kindheit musste sie auf dem Stühlchen verbringen, weil Rennen verboten war, alles Draußen war verboten und alles Drinnen unerwünscht, ihr Biopic zeigte Richtung Lola sitzt. Jetzt hingegen: Lola rennt, wobei das Rennen am Kanal bloß eine Gewohnheit unter anderen ist und auf den letzten Metern ins Gehen wechselt, um die Atmung runterzufahren und die Augen zu schließen, einfach insgesamt zuzumachen, ganz zu und mit hängenden Armen im Dunkel zu stehen, während die Kinder davonstieben.
Als sie kein Kind mehr war, aber jung, liebte sie alte Schwarz-Weiß-Filme. So oft wie möglich verschwand sie nachmittags ins Roxy, zahlte geringen Eintritt und wählte einen Platz im hinteren Teil des riesigen Saals, immer unter dem Dach des weit nach vorn ragenden Balkons, wo es finster war und die Leinwand so entfernt, dass sie die Bilder gut erkennen, aber auch von sich abhalten konnte, falls sie zu sehr schmerzten. "Heute Nachmittag ins schwarze Loch!", summte sie morgens, während die Lehrerin die Tafel vollschrieb. Und wen oder was würde sie mitnehmen? Eine Tüte Lakritz und ihre stille Freundin, die Einsamkeit.
Mittags, beim Kochen, wenn das Sonnenlicht bis in die Winkel reicht und vor dem Fenster die Vergissmeinnicht blühen, denkt sie oft an die Kinojahre. So viele liebe Menschen haben ihr Gesellschaft geleistet! Bilder über Bilder hat ihr Gedächtnis angehäuft, einfach durch Sesselsitzen und offene Augen. Das warst du, sagt die Erinnerung, wenn Grace Kelly die Pistole hebt und schießt, und: Das bist du immer noch, Angst und Grimm, aber auch: Das wirst du sein bis zum Ende, als warte die Zukunft schon als Trailer im Kopf. Was für eine Idee!
Immerhin hat sie es aus dem Kino in die Küche geschafft, in dieses Mittelhaus, wo sie den Kindern eine schöne Kindheit bereitet. Wahrlich ein Glück, aber auch Grund zur Unruhe. Denn während sie plant und schafft von Tag zu Tag, sorgt die Vergangenheit für Zwischenrufe, die sie nicht mitteilen kann. Jan, ihr Mann, hat seine Jugend im Schachclub verbracht und kennt keine Filme, schon gar keine alten, auch den Freundinnen kann sie höchstens mit Psycho und Some Like It Hot kommen, nicht mit Stagecoach oder Red River. Nie gehört, sagen sie und wenden sich ab. Zehntausend Rinder nach Abilene? Ist das dein Ernst? Aber ja, und so bleibt ihr die Einsamkeit treu.
Einmal, als sie Gehacktes zu Frikadellen presst, wird sie von einer Szene überrascht, die sie nicht einordnen kann. Ein junger Mann steht in der Prärie und schaut drei davongaloppierenden Männern nach, und obwohl es schon dämmert, ist sein weiches Gesicht hell ausgeleuchtet, sodass das Publikum sich einprägen kann, wie er schaut.
Ja wie denn? Sie lässt die fleischverklebten Hände sinken und sucht nach Worten. Der junge, fast noch kindliche Mann scheint weder schlau noch dumm noch ängstlich zu sein und schaut einfach geradeaus, so wie sie auf das rote Fleisch an ihren Händen schaut oder auf den Kalender an der Wand. Irgendein Bill oder Tom, der im Freien steht wie gewohnt. Wo gehört er hin, in welchen Film?
Wenig später klingelt es an der Tür. Schule aus, Kinder zuhaus. Sie stürmen die Treppe hoch in ihre winzigen Zimmer und wieder herunter, als sie zum Essen ruft. Gabeln und Messer in den Fäusten, sitzen sie um den Tisch und warten, dass die Mutter die Schüsseln herbeiträgt wie jeden Tag. Eilig, damit sie warm bleiben, und eilig, aber ohne Hast wird gegessen und erzählt.
Sie kennt die Namen der Lehrer und Mitschüler und glaubt zu verstehen, wovon die Kinder reden. Meist redet sie mit, heute drückt sie die Tonspur weg. Aufmerksam betrachtet sie die blonden Köpfe, so aufmerksam wie vorhin den jungen Mann, das Gehackte, die Zwiebeln, den Kalender, aber doch anders, während sie nebenbei die Frikadelle auf dem Teller zerstochert und wartet. Gleich wird das Gedächtnis liefern. Man muss an etwas anderes, Gleichgültiges denken, an den nächsten Sonntag oder die Einkaufsliste, damit das Wort aufwacht, das weiterhilft.
"Brüder" heißt das Wort.
Drei Brüder galoppieren durch die Prärie Richtung Stadt, der vierte und jüngste bleibt bei der Herde und schaut ihnen nach. Als die drei zurückkommen, ist es Nacht, und der Regen schüttet. Rauschendes, lärmendes Wasser, das senkrecht auf die Männer in den schwarzen Mänteln niedergeht, sich von den Hutkrempen über die Schultern ergießt, nichts anderes ist in der Dunkelheit zu sehen, zu hören. Das, was fehlt, hat sie in ihrem Sessel sofort begriffen, nicht aber, dass die Großaufnahme des Jungengesichts sie darauf vorbereitete durch ihre Dauer. Ein Einschnitt und Stillstand, der den Tod ankündigt, eine Mahnung, diesen Menschen aufmerksam anzusehen und nicht zu vergessen. So versteht sie es jetzt, am Mittagstisch.
Abends, als die Kinder im Bett sind, sucht sie den Film im Netz. Er ist leicht zu finden, weil Henry Fonda die Hauptrolle spielt. Er ist der ältere Bruder, der sich im Barber Shop mit eingeschäumtem und schon halb abrasiertem Bart aus dem Sessel erhebt, das Handtuch noch um den Hals und voller Zorn, weil ein paar Betrunkene auf der Straße herumballern, die er ohne Mühe bändigt. Die Stadt heißt Tombstone, und Wyatt Earp wird von den Bürgern gebeten, in Zukunft für Recht und Ordnung zu sorgen, was er ablehnt, da er doch mit seinen Brüdern die Herde weiter­treiben und verkaufen muss. Trotzdem wirkt das Angebot als gutes Licht, aber für James Earp, den Jüngsten, halb noch ein Kind, kommt das Gute zu spät. Erschossen liegt er im Regen, sein Tod stoppt die Handlung und setzt einen zweiten Anfang, nachdrücklich wie ein Gongschlag, dessen Hall bis zur letzten Einstellung reicht.
Sie klappt das Notebook zu und grübelt. Toller Film, keine Frage, aber welchen Schluss soll sie ziehen? Wo ist der Link in die Zukunft? Die Angst vor dem Tod eines Kindes beginnt mit seiner Geburt und muss wieder und wieder unter den Teppich gekehrt werden, sonst ist die Gegenwart nicht auszuhalten. Als sie den Film zum ersten Mal sah, in der Kinohöhle, war sie allein und fürchtete einzig und eher selten ums eigene Leben. Jetzt, in ihrem Mittelhaus, ist sie nie mehr allein und hat andere Ängste. Der Film füttert die Angst, aber schiebt sie auch beiseite. Der Eine wird erschossen, der Andere tötet den Mörder und findet eine Frau. Also was?
Morgen früh, wenn die Kinder in der Schule sind und Jan im Büro, wird sie in den Keller hinuntersteigen und tatsächlich, wie so oft schon geschworen, mit dem Aufräumen und Säubern dieses Kellerlochs beginnen: Die verhasste, kräftezehrende Arbeit unter der trüben Lampe wird helfen. Man wühlt im Staub und steht bis zu den Knöcheln im Dreck, man räumt und ächzt, füllt den Müll in Müllsäcke und reinigt, was man behalten will, wenig genug, um gegen Mittag wieder nach oben zu steigen und die Hände lange unter warmes Wasser zu halten. Dann kochen und auf die Kinder warten, als wäre nichts.
Während sie reglos vor dem geschlossenen Notebook sitzt und auf Abwehr sinnt, ist Jan aufgestanden und legt die Hände auf ihre Schultern. Kraulen?, fragt er. Sie nickt.
Am nächsten Morgen frühstücken die Kinder missmutig wie üblich und drängen sich, die vollgepackten Tornister auf dem Rücken, mit hängenden Armen in die Diele. Dort steht sie, noch im Bademantel, um die Haustür aufzuschließen und Macht's gut! und Passt auf! zu sagen wie immer, mit einem Klaps auf die Schulter für jeden. Wie hübsch sie sind, wie verschlafen in ihrem Davontrotten!
Zurück Richtung Küche, sieht sie Jan aufstehen und nach dem Autoschlüssel greifen. Er folgt ihr zur Tür. Wie jeden Morgen halten sie inne und umarmen einander. Alles gut?, fragt er.
Sie hebt den Kopf, er schaut sie an und lächelt.
Wie glücklich können wir uns schätzen, sagt er vorsichtig und löst die Umarmung.
Ja, denkt sie, schau mich an, nur mich, lange genug.