Gerald Funk
Bücher waren sein Leben. Nicht nur die eigenen, sondern auch die anderer, vor allem die Werke der Weltliteratur. Sie sammelte, las und liebte er. Viele davon, unendlich viele. Aber auch die kleinen Broschüren und Druckwerke der Freunde. Selbst die wurden sorgfältig archiviert und verwahrt. Kam man in sein Zimmer oder später in seine Wohnung, so sah man Bücher an der Wand in Regalen, aber auch Bücher unter dem Bett, in Türmen gestapelt am Boden, zum Teil wie Dünen langsam ansteigend in unterschiedliche Höhen. In allen Ecken, aber auch auf Tischen, Stühlen und anderen Sitzmöbeln verstreut eroberten sie, so schien es zumindest, Stück um Stück, Zentimeter um Zentimeter den jeweiligen Raum. Trat man zu schnell zur Tür herein oder ging unvorsichtig um einen der Stapel herum und das Fenster war auf, konnte es passieren, dass der unkontrollierte Luftzug einen der mühsam aufgeschichteten Buchstalagmiten ins Wanken brachte.
Es war vermutlich die stille Würde des bedruckten Papiers, die ihn zeitlebens angezogen, die er verehrt hat. Schon in jungen Jahren, als unsere Freundschaft begann. Ich habe auch später niemals mehr einen solch heiligen Büchernarren kennengelernt. Ich habe ihn geschätzt, als Autor und Leser und Freund. Man kann sich daher vielleicht vorstellen, wie schockiert ich war, als ich die Nachricht von seinem überraschenden Tod erhielt. Sie kam plötzlich und unerwartet, diese Todesnachricht, das will ich nicht verschweigen, da wir zuletzt keinen allzu engen Kontakt mehr hielten und uns etwas aus den Augen verloren hatten, auch wenn ich seine in erheblichen Abständen erschienenen neuesten Bücher regelmäßig gekauft und gelesen habe.
Die literarische Öffentlichkeit dürfte indes von seinem Leben, seinem Werk, geschweige denn von seinem Tod keine Kenntnis genommen haben. Selbst sein Urgroßvater, der in den 1920er und frühen 1930er Jahren durchaus prominente Schriftsteller und Journalist Arnold Hoellriegel, Verfasser bekannter Reisebücher und Romane wie Die Derwischtrommel oder In 80 Zeilen durch die Welt, ist inzwischen nahezu vollständig im Abgrund des Vergessens verschwunden. Wie sein talentierter Urenkel. Wer weiß schon, warum dieser oder jener im Licht, der andere dagegen - nicht weniger begabt - im Schatten steht. Auch die Frage nach dem verlorenen o im vormaligen Umlaut des Nachnamens dürfte auf immer unbeantwortet bleiben.
Ich jedenfalls bin stolz darauf, ihn gekannt zu haben. Was seine Familie nach der Emigration, die aufgrund der bekannten braunen Dunkelheit, die sich ab 1933 über unser einst blühendes Land senkte, unabwendbar war, schließlich in die kleine nordhessische Metropole verschlagen hat, in der wir unsere gemeinsame Schulzeit verbrachten, wage ich mir nicht vorzustellen. Ich habe ihn persönlich, aus einer gewissen Scheu und Diskretion heraus, aber auch nie danach gefragt. Wir lernten uns zu Beginn der Oberstufe kennen, als die ehemaligen Schulklassen neu gemischt wurden. Wir saßen, weil uns nichts Besseres eingefallen war, irgendwann zusammen in einem Leistungskurs Biologie. Mehr war nicht drin. Beide waren wir so etwas wie Solitäre in einem System, das auf Effizienz, Erfolg oder körperliche Überlegenheit getrimmt war und für das wir nicht viel übrig hatten. Biologie schien uns ein Mindestmaß an intellektueller Zugänglichkeit zu versprechen. Eine falsche Annahme, der wir beide später Tribut zollen mussten. Vermutlich waren es solche Gemeinsamkeiten, die uns angezogen haben. Wir blickten einander tief in die gelangweilte und doch so glücksgierige Seele.
Alvin war ein Jahr älter als ich und hatte schon einiges erlebt. Davon erzählte er selbst mir nie, aber durch seine drei Jahre ältere Schwester erfuhr ich es irgendwann. Bei einem seiner kleinen Nebenjobs im Kino, mit dem er seine Gier nach Büchern befriedigen konnte, deren Erwerb auch damals schon nicht billig war, muss es wohl zu einer kleinen Übergriffigkeit gekommen sein. Mit einer groben, im Vorführraum gefundenen Holzlatte prügelte er die übrig gebliebenen Kinobesucher der Spätvorstellung aus ihren Plüschsesseln, als diese - von der Filmkunst offensichtlich überwältigt - dort eingenickt saßen und ihn in ihrer Ignoranz ärgerten oder auch nur am zeitigen Heimgehen hinderten. Wer weiß das schon? Ein halbjähriger Psychiatrieaufenthalt war die Folge. Sonst hätten wir uns wohl nie kennengelernt. So aber teilten wir - zumindest temporär - das Leid der Schulzeit. Denn Alvin musste ein Schuljahr nachholen.
Auf einer gemeinsamen Oberstufenfahrt, in der wir beide uns vom profanen Sightseeing-Tourismus unserer Kursgenossen weitgehend entfernt hielten und unserer kleinen Neigung zu nicht ganz legalen Rauschmitteln gemeinsam nachgingen, kamen wir uns so nahe, dass wir uns auch später, zurück im Alltag der Kleinstadt, immer wieder trafen und schnell anfreundeten. Wir hörten Musik, lasen uns Texte vor und redeten, über Frauen, die Welt, den Tod und das Leben. Bei einem der ersten langen Abende, die wir zusammen verbrachten, stellte er mir ein Album vor, das bis heute nachhaltigen Einfluss auf meinen Musikgeschmack genommen hat: King Crimsons In the Court of the Crimson King mit dem schauerlich beeindruckenden Cover von Barry Godber, auf dem in grober, schriller Manier und Farbgebung der zum Schrei aufgerissene Mund und die entsetzten Augen eines Gesichts zu sehen sind, das einen bis in die eigenen Alpträume verfolgt. Sonst nichts. Kein Bandname, kein Titel. Das war gewagt, ebenso wie die Musik, die uns beiden gleichermaßen gefiel, weil sie sanft war und hart zugleich, weil sie sich um traditionelle Genres nicht kümmerte, sondern etwas Eigenes versuchte.
Bei unseren Texten dagegen hatten wir, was sehr schnell zu bemerken war, unterschiedliche literarische Vorbilder. Bei Alvin waren es die Underground-Poeten der späten Sechziger, bei mir die Romantiker und Symbolisten des neunzehnten Jahrhunderts. Er war Zyniker, ich Romantiker. Das ging nur schwer zusammen, und doch entstand schon bald der Plan, mit Freunden ein gemeinsames Büchlein zu machen. Als unsere Anthologie "Wir waren so viele" dann erschien, enthielt sie tatsächlich einen seiner bis heute besten Texte, das existentialistisch-philosophische Pamphlet "Der Schinken".
Während wir anderen im neuromantischen Kitsch literarisch versumpften, packte er knapp und treffend die wichtigen Lebensfragen an: Ein leicht angetrunkener junger Mann kommt mit Heißhunger nach Hause und findet in seinem Kühlschrank eine halbe Scheibe Schinken - nicht mehr, nicht weniger, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel! Das ist das existentielle Dilemma, das den Erzähler mit aller Wucht anfällt und dem er sich sprachlich stellt. Alles beginnt ganz harmlos: "Beim Anblick dieser halben Scheibe Schinken, die eine große Dose belegte, die für sich wiederum eine Etage des Kühlschranks ausfüllte, ging mich ein Unbehagen an, erklang irgendwo in mir eine dumpfe Verzweiflung." Aus dieser Verzweiflung indes erwächst der Drang, der trüben, unerklärlichen psychischen Erregung auf den Grund zu gehen. Es stellen sich die essentiellen Lebensfragen nach Aufwand und Ertrag: essen oder nicht essen? Nicht essen hieße, den Zweck des Lebensmittels und des Kühlschranks zu missachten; wird das zarte Stück Tierfleisch aber gegessen, werden beide, Kühlschrank wie Muskelfaser, zwar ihrem Zweck gemäß eingesetzt, aber der hungerstillende Ertrag des Ganzen, der Aufwand an Energie und Ressourcen ist ziemlich unverhältnismäßig. Wirft der Mensch das Ganze den Ratten zum Fraß vor, macht er sich schuldig, obwohl dies letztlich wiederum ja die "Essenz unserer Existenz" ist, wie Alvin hellsichtig schreibt. Man erkennt die Tiefe der Fragestellung.
Dieser Text, ein Meisterwerk der Traktatliteratur, war indes nur ein früher Markstein seiner literarischen Ambitionen. Ihn hielt es nie lange an einem Ort, bei einem literarischen Genre. Sein nächstes Ziel waren Gedichte, und zwar gereimte. Das war etwas ziemlich Besonderes in Zeiten, wo man gern ohne Groß- und Kleinschreibung (denn dies waren bourgeoise Herrschaftssignale!) und ohne Interpunktion den Banalitäten des eingeschränkten Sprachvermögens freien Lauf ließ. An einen seiner frühen gereimten lyrischen Versuche erinnere ich mich noch sehr gut: "Ich sitz allein in blauem Rauch, / viele sind schon gegangen, / bald gehen die letzten Freunde auch." Mir läuft noch jetzt ein Schauer über den Rücken, wenn ich mir die Silben laut vorspreche. Diese Verse markieren nicht nur das Ende einer Party, sondern sie werden zum Sinnbild des Lebens überhaupt. Der blaue Rauch, das ist die Lebensmetapher schlechthin, ein Leben, das uns letztlich wie diffuser Nebel umwabert und den Atem nimmt, während Jahr um Jahr die Freunde weniger werden.
Vielleicht hat das Gedicht nicht die lyrische Schärfe eines Baudelaire, nicht die ziselierte Feinheit des jungen Hofmannsthal, doch seine zersetzende Melancholie kann kein fühlendes Herz ungerührt lassen, da bin ich mir sicher. Während also Alvin von einem literarischen Höhepunkt zum nächsten eilte und dabei wunderbare, bleibende Ergebnisse erzielte, stellte ich schon bald meine eigenen Bemühungen ein, um auf die andere Seite zu wechseln, die Seite der professionellen Interpreten. Wer nichts wird, wird Wirt, heißt es. Ich möchte ergänzen, wer nicht selber schreiben kann, legt das Geschriebene von andern aus. Mehr schlecht als recht, will ich hinzufügen. Und ich weiß, wovon ich spreche. Aber das ist eine neue Geschichte, die hier nicht erzählt werden muss.
Diese Wendung meinerseits war jedenfalls eine erste Zäsur in unseren Beziehungen. Die Überheblichkeit der Zweitverwerter von Texten, ihre Attitüde der Besserwisserei und intellektuellen Deutungshoheit muss ziemlich anstrengend auf Autoren wirken. Man bleibt davon nicht verschont. Nur wer selbst weiß, wie schwer das Verfassen guter Texte ist, wie sehr man um Ausdruck und Stil ringt, kann vermutlich auch mittelmäßigen Texten den Respekt entgegenbringen, den sie verdienen. Mediokre literaturwissenschaftliche Arbeiten schreiben sich leichter. Ich kenne viele davon.
Während ich weiter in M. studierte, wohin wir nach der Schulzeit gemeinsam gegangen waren, machte sich Alvin schon bald in den Süden der Republik auf, um dort das Leben zu lernen und seine Feder zu schärfen. Was dabei herauskam, hat mich damals ziemlich beeindruckt. Statt die Opulenz seiner Worte zu steigern, den Ausdruck zu verfeinern, die Form zu veredeln, wendete er sich plötzlich bedingungslos der Kargheit, der Reduktion zu. Seine Texte und Gedichte wurden immer einfacher, schlichter. Eines davon, das er mir in einem Brief zukommen ließ, habe ich abgeschrieben. Und es begleitet mich seitdem auf allen meinen Wegen. Es hat die Schönheit japanischer Haikus, die seine Inspirationsquelle in jenen Jahren waren: "Winter, / die Enten sterben; / niemand wirft ihnen Brot / von den Brücken. / Winter, / die Menschen sterben; / niemand ..." Die drei Auslassungspunkte am Schluss des Gedichts jagen mir noch heute Schauder des Entzückens über den Rücken. Eine Ellipse des Unsäglichen! Eine typographische und grammatikalische Auslassung von einer schweigenden Beredtheit, die ihresgleichen sucht.
Aber ich komme in ein Schwärmen, das mir nicht ansteht, denn es war die Bewegung weg von der rhetorischen Opulenz des "Schinkens" über den Reim hin zur kargen Stille der "Enten", die ich heute als symptomatisch für Alvins poetische Existenz begreife. Eine Bewegung, die letztlich im Schweigen enden musste. Zuvor gab es noch die Phase der reinen Ding-Texte, wortkarge Prosa über scheinbar banale Gegenstände des Alltags wie etwa die Schuhbürste, die Schöpfkelle oder den Flaschenöffner, die Alvin in ihrem funktionalen Zauber sprachlich zu beschwören versuchte, ohne überflüssige Worte zu gebrauchen. Wie gut ist ihm dies gelungen! Wer seine Miniaturen liest, wird von ihrer herben und zarten Schönheit überwältigt. Ich kann sie nur jedem passionierten Leser ans Herz legen.
Die Jahre vergingen indes, wie sie immer vergehen. Wir wurden älter, das Leben schrieb uns Furchen ins Gesicht und Narben auf die Seele. Dabei ging die Vertrautheit von früher in Erinnerung, mitunter auch in Nostalgie über. Wir haben uns hin und wieder gesehen in jenen Jahren, auch wenn mich erst mein Studium, dann meine Tätigkeit an der Universität ziemlich absorbierte und die Beschäftigung mit mir selbst, meiner akademischen Zukunft und meinem Privatleben den Kontakt zwischen uns auf einige wenige persönliche Treffen und Briefe reduzierte.
Außerdem war mir tatsächlich die karge Existenz als Autor und Lebenskünstler, die Alvin führte, ein kleiner Dorn im Auge. Ich konnte ihr den nötigen Respekt, den ich früher besaß, nicht anhaltend entgegenbringen und schaute mitunter hochnäsig auf sein eher ärmliches Leben herab. Das bereue ich heute, wo er nicht mehr unter uns ist, von ganzem Herzen! Er hat mir immer wieder die neuesten seiner Schöpfungen zukommen lassen, und ich habe sie mit großem, wirklich großem Vergnügen gelesen, aber ihn nicht regelmäßig und ausführlich meiner Wertschätzung und Freundschaft versichert, so dass die Jahre doch einige Distanz zwischen uns legten. Sein Leben als Leser und Kleinautor wurde mir fremd, so schwer es mir auch fällt, dies zuzugeben.
Als ich jetzt hörte, er sei nicht nur vorzeitig, sondern auch noch unglücklich durch seine Bücher umgekommen, konnte ich es nicht glauben. Niemand stirbt durch Bücher! Auf Nachfrage erfuhr ich jedoch, dass tatsächlich eines seiner Regale schuld an seinem vorzeitigen Tod gewesen ist. Es stand seinem Bett gegenüber und war offensichtlich nicht ordnungsgemäß an der Wand befestigt und gesichert gewesen, so dass es ihm an der rechten Schläfe beim Fallen den Schädel zertrümmert hat. Was es aus dem Gleichgewicht brachte, wurde bislang nicht ermittelt und lässt sich wohl auch nicht mehr klären. Darf man seinen Tod dennoch einen 'natürlichen' nennen? Immerhin wird er friedlich eingeschlafen sein, bevor das Bücherbrett ihm zu früh, viel zu früh - er war erst dreiundfünfzig - das Leben nahm. Ruhe in Frieden, mein Freund! |