Imke Müller-Hellmann
Padre Alfonso zeigte sein Kloster: Empore und Kreuzgang, Bibliothek und Kirchenschatz. Jede Gruppe ermüdete, aber er vorneweg, hochbetagt, immer flink: "Kommen Sie! Kommen Sie!" - zum Wichtigsten, zur Sakristei. Eine Marienfigur, langes Gewand, langer Schal, die Füße auf der Mondsichel, der Blick in die Welt, kein Kind auf dem Arm. Er schwieg, er wartete, er wies auf den gewölbten Bauch der Figur, er sagte feierlich: "Maria in guter Hoffnung." Die Gruppen vor ihm verharrten, stirnrunzelnd, aufmerksam, niemand bewegte sich mehr. Er zog Postkarten aus einem Buch, hob sie einzeln in die Luft, wie einen Beweis, triumphierend, eine Neuigkeit, unerhört. Auf den Bildern die schwangeren Marienfiguren in den Kirchen der Welt. Aus Holz oder bemalt, Hand auf dem Bauch, Hand ausgestreckt, den Blick gesenkt, den Blick erhoben. Jedes Bild führte er in einem Halbkreis durch die Luft, schweigend und ernst, nichts gab es nun mehr zu sagen. Er steckte die Karten ein und die Hände tief in die Ärmel des Habits, er schritt würdevoll durch die schweigende Gruppe hindurch auf dem Alabasterboden hinaus.
Ein halbes Jahr später stand er vor seinem Kloster, lächelnd, teilnahmslos. "Führung? Nein, das geht nicht." Er schüttelte heftig den Kopf. Dann sagte er leise: "Vielleicht." Er machte eine Handbewegung nach drinnen. "Sie haben es mir verboten." Ich winkte der Reisegruppe und zog den Padre mit, seine ersten Schritte zögerlich, dann fest und schnell. Die Kirche, das Hinabsteigen der Stufen, das gedämpfte Licht. Alfonso sah sich verwundert um. Er ging zu der Seitenkapelle, in der Baugeräte abgestellt waren, die Kirche wurde restauriert. Er zeigte auf die Geräte, fuhr sich nachdenklich mit dem Finger über die Lippen. Ich stellte mich neben ihn, ich sagte laut: "Dieses Kloster ist die Wiege der kastilischen Sprache." Ich stieß den Padre an, "kastilische Sprache, oder?" Er nickte. "Ja, kastilische Sprache. Hier wurden die ersten Wörter des Vulgärlateins geschrieben, das das Volk damals zu sprechen pflegte, die spätere Weltsprache Spanisch." Er stellte sich auf die Zehenspitzen, hängte die Daumen in seinen Gürtel und begann. Der Vortrag saß, ein Leben lang einstudiert. In der Kirche war es kühl, und die Orgel war hinter blauen Plastikplanen verborgen, ebenso der Altarbereich. Alfonso beendete seine Rede, ging nach vorne und schob eine Plane beiseite. Er winkte, alle stiegen durch die Öffnung, drängten sich in den Glockenturm hinterm Altar. Ein herabhängendes Seil, bröckelnder Putz, leere Vasen. Oben im Halbrund ein Fenster, verstaubt. Er zog einen Tisch von der Wand, sah in die Runde und klopfte mit der Hand auf die Platte. Ich dachte, was immer das soll, nahm seine Hand und kletterte auf das Holz. Er hieß mich, das Fenster zu öffnen, Jahre war das nicht mehr offen gewesen, neben den Staubflocken tote Fliegen. Mit einem Ruck riss ich es auf, entfernte die Spinnweben mit der Hand. Er zeigte mir, dass ich mich hinauslehnen und nach rechts schauen solle. Unter mir ein Garten, rechts eine lange Wand, gelbbraun, kleine Fenster darin. "Das letzte", sagte Padre Alfonso, "das letzte ganz oben, das ist meins, dort bin ich zu Haus." Das letzte Fenster war geöffnet, ein heller Holzrahmen, ein alter Griff. Ich nickte dem Padre zu, kletterte wieder herunter. Sie werden sich beschweren, dachte ich, sie werden das dem Reiseanbieter melden. Ich wischte mir die Hände an der Hose ab, ich sah in die Gesichter, niemand beachtete mich, der Nächste kletterte schon auf den Tisch. Alle wollten das Fenster des Padres sehen, den Kopf aus dem Glockenturm strecken. Wir warteten leise hinter der Plane, bis eine andere Gruppe vorüber war. Wir gingen mit schnellen Schritten zur Bibliothek und hoben die großen Bücher an, die man nie hatte berühren dürfen, wir schätzten, wie schwer sie wohl seien. Wir verweilten sehr lang in der Sakristei bei der Marienfigur, die Postkarten machten die Runde. Alfonso strahlte, er war sehr froh.
Ein halbes Jahr später stand er vor dem Kloster und lächelte nicht. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick konzentriert. Er suchte mit den Augen den Platz vor dem Tor ab, den Parkplatz für die Touristen, gepflastert, einige Ahornbäume. Ich ging zu ihm. "Padre Alfonso!" Seine Augen waren weit weg, aber nicht müde. Ich sagte: "Kommen Sie, kommen Sie, die Führung, ich habe eine Gruppe dabei." Alfonso blinzelte. Er zog eine Hand hervor, er hielt Blätter darin, Ahornblätter, fest umschlossen, sie waren an einigen Stellen schon rot. Er öffnete langsam den Griff, die Blätter rutschten auseinander. Seine Stimme klang fest: "Ich führe nicht mehr. Ich habe nun andere Dinge zu tun." Als fiele es ihm wieder ein, blickte er über den Platz. Er ging los, seine breiten Sandalen auf Stein, die Schritte flink. Er blieb stehen, bückte sich schnell, der Überwurf berührte den Boden. Er hob ein Blatt auf, das heruntergefallen war, legte es zu den anderen Blättern in seine ausgebreitete Hand. Die Bäume rauschten nicht, sie standen still. Sie waren voller Laub, noch grün. Das Fallen der Blätter hatte grad erst begonnen. |