Andreas Heckmann
Als Kind war ich mehrmals auf Baltrum, der kleinsten Ostfriesischen Insel. Ich baute Sandburgen, die die Flut verschlang, und ging mit einem Eimerchen auf der Mole Krebse fangen; im Inselinnern ließ ich ein Segelschiff schwimmen, und in der Nähe standen schnaubende Pferde; ich spielte mit meiner Großmutter Minigolf und erinnere mich der luftigen Weizenbrötchen unserer Pensionswirtin Frau Lübben. Ja, das war schön, und meine Eltern waren jung.
Inzwischen haben sich die Dimensionen verändert, und als Erwachsener zurückzukehren - ich war in den letzten Jahren dreimal auf Borkum, der größten Ostfriesischen Insel -, ist anders. Es gibt nur Sand, Dünen und Wind, einen großen Himmel (wenn man Glück hat) und Ebbe und Flut. Das ist wunderbar, wenn man aus der Großstadt kommt, aus Kleinteiligkeit, Reizüberflutung und Angebotshölle, aber auch ein wenig monoton. Andererseits liegen vor der schleswig-holsteinischen Küste schon die so anders gestrickten Nordfriesischen Inseln, Amrum etwa, früheres Festland, das nach Sturmfluten übrig blieb und wo es Marsch gibt und alte Kirchlein von großem Charme, alten Baumbestand. Amrum gefällt mir sehr mit seinem breiten Sandstrand an der Westküste, seiner Landwirtschaft und Dörfern, die man eher auf Rügen erwartet, ohne dass die Höhenzüge sich zu großen Gesten aufschwingen.
Und dann gibt es eine Insel, deren Schönheit ich erst 2013 kennen gelernt habe, weil zumal mein Vater sich strikt geweigert hat, sie zu besuchen, und ich später lange nicht auf die Idee kam, dort vorbeizuschauen: Helgoland ist unfassbar klein und liegt einsam im Meer, von Cuxhaven zweieinhalb, von Bremerhaven dreieinhalb Stunden entfernt. In den 60er und 70er Jahren hatte es einen ziemlich miesen Ruf als Butterfahrtparadies, wo man als Tagestourist hinfuhr und die Reise durch den Einkauf von Spirituosen und Zigaretten finanzierte, aber das ist lange vorbei. Zollfreien Schnaps gibt's im Flughafen auch, und wer wirklich raus will, bucht Faro oder gleich Sri Lanka, und inzwischen fahren nur noch wenige Leute auf die Insel, die weiter von nun viel zu großen Personenfähren angelaufen wird. Helgoland ist einerseits ein Balkon mitten im Meer, ein Balkon aus fünfzig Meter hohem Sandsteinfels, von dem aus man die Sonne auf- und untergehen sehen und die Wolken betrachten kann und um den der Wind pfeift, wenn er denn pfeift. Und man kann vom Oberland (so heißt das Plateau dort) zum Unterland hinuntersteigen und ist dann am Fuß des steilen Felsens, direkt am Meer (und Helgoland lässt einen das Meer anders empfinden als die friesischen Inseln, gewaltiger, kein Festland stärkt einem den Rücken, man ist ausgesetzter, ein interessantes Gefühl). Und dann gibt es die Düne, auf die im Halbstundenrhythmus eine Fähre übersetzt. Die Düne ist der Strand von Helgoland, dort ist es ein wenig wie auf den Ostfriesischen Inseln, nur eben mitten im Meer, und dort gibt es die Schingels - so heißen sie, glaube ich, ich mag nicht googeln und verlasse mich auf mein löchriges Gedächtnis. Die Schingels sind Steinchen, und wenn die Wellen gegen sie schlagen, klicken sie, ein monotones und zugleich nicht-monotones Geräusch. Daniel, der mitunter unesoterische Ambient-Musik auflegt, an die man binnen Minuten tief verloren gehen kann, ist Helgoland-Freund und hatte dort das Hummerbuden-Stipendium. Hummerbuden sind Läden am Hafen, in denen die Tagestouristen, nachdem sie sich mit Schnaps eingedeckt haben, noch ein Souvenir für die Lieben daheim kaufen sollen, und weil die Kunden erst ab zwölf vom Festland eintreffen und spätestens um vier wieder auf die Rückreise gehen, ist die Arbeitszeit recht überschaubar. Daniel hat dort einen Monat lang eher schlechte Kunst angeboten (war nicht von ihm) und hatte dafür freie Kost und Logis, wahrscheinlich auch ein Taschengeld. Und ist gern auf die Düne gefahren und hat die Schingels aufgenommen, wie sie leise klicken mit den Wellen.
Ja, die Tagestouristen. Ab 16:00 wird die Insel wieder zu einem Dornröschen der Nordsee (ein Label, mit dem Baltrum sehr zu Unrecht für sich wirbt), und wer in der Vorsaison, im Mai, dort Quartier nimmt - das kann erstaunlich günstig sein -, nächtigt auf einem Felsen, in dessen steil ins Meer abfallendem Buntsandstein tausende Vögel brüten. Faszinierend, ihnen zuzusehen, wie sie für ihre Partner, später auch für die Brut Fische ertauchen, ein großes, flirrendes Vogeldurcheinander voller Schreie und Schwingen, voll schwarmloser Harmonie, auch abends noch, wenn die Sonne idealerweise rot im Meer versinkt und die Tiere als schwarze Silhouetten vor ihr flirren. Ringsum stehen Vogelbeobachter mit riesigen Fernrohren und Teleskopen und Kameras. Aus ganz Europa kommen sie, die so vogelbegeisterten Engländer, aber auch Niederländer, Spanier, Skandinavier, vor allem Deutsche natürlich, aber geredet wird nicht viel, sie sind ja der Vögel wegen gekommen und im übrigen ihrerseits etwas wunderlich, keine schrägen Vögel, auch keine bunten, eher etwas vogelig, wie man so sagt. Ja, Helgoland ist wunderschön im Mai, sofern das Wetter mitspielt.
Und dann gibt es die Fjorde Norwegens, ganz herrlich, wie alle von Fotos wissen, die Hurtigruten-Schiffe vor steilen Bergen zeigen. Und die sanfte englische Ostküste, wo W.G. Sebald wanderte und über die er das melancholische Buch Die Ringe des Saturn geschrieben hat (benannt nach den Kreisen, die den Planeten der Schwermut umgeben), aber auch die schottische Ostküste (der Lars von Trier Breaking the Waves abgerungen hat) und die überwältigend schönen Orkney-Inseln. Und die Faröer, wo eine meiner Lieblingsmünchnerinnen, Melli aus Göttingen, die als Pflegerin für mehrfach schwerbehinderte Kinder arbeitet, vor ein paar Jahren war, zum Glück bei einer Familie günstig untergebracht (denn die Faröer sind teuer). Dort hat sie die MetaMaus von Art Spiegelman im Regal entdeckt; da sei sie nun auf den Faröern und stoße auf ein von mir übersetztes Buch. Ich gestehe, das hat mich gerührt.
In der Nordsee also gibt's viel zu entdecken. Und danach auch, denn dann kommt der Atlantik, dann kommen Irland und die englische und schottische Westküste mit den Hebriden und erneut die Orkneys, auf der Grenze von Nordsee und Atlantik, ganz ausgesetzt und im Landesinnern dennoch wundermild und traumverloren, ein Paradies für Drop-outs, denen es keinen Spaß mehr macht in den großen Städten Britanniens. Ich traf einen Lehrer für autistische Kinder, die dort normale Schulen besuchen, denn die Orcadians - die Bewohner der Orkneys, die von Skandinavien aus besiedelt wurden und bis 1495 zu Norwegen gehörten (behaupte ich aus dem Gedächtnis), weshalb dort viele Andersons und Svenssons wohnen und kaum jemand McSoundso heißt -, die Orcadians also sind eine recht egalitäre Gemeinschaft, die Wert darauf legt, auch die "Behinderten" zu integrieren, und sich entsprechende Einrichtungen leistet, finanziert wohl auch von dem Geld, das offshore mit Erdöl und Erdgas verdient wird.
Aber bevor es ausufert, kehren wir lieber zurück in den südöstlichsten Teil der Nordsee, nach Helgoland und zu den Schingels ... |