Am Erker 70

 

 
Texte
Am Erker 70, Münster, Dezember 2015
 

Michael Krupp
Vormittag zur freien Verfügung

Butz bleibt stehen. Eigentlich hatte er gerade seinen Rhythmus gefunden. Die Gipfelspitze, die bisweilen zwischen Wolken aufkreuzte, zog ihn mehr und mehr wie ein Motor. Dumm nur, dass man hier zu zweit unterwegs war. Ein übertrieben gedehntes "Haallooo!" erinnert ihn an seinen heutigen Partner, dem er deutlich mehr Ehrgeiz zugetraut hätte. "Warten Sie bitte maaal?!"
"Ja doch!", ruft Butz den Abhang hinunter und lehnt sich an einen Felsen. Jeden Moment kann Seidler dort aus dem Fichtenwald auftauchen. So lange muss er sich wohl gedulden. Zumindest bis wieder Sichtkontakt hergestellt ist. Erst jetzt spürt Butz, wie ungestüm sein Herz klopft. Als ob es ihm an den Kragen will.
Er öffnet Hemdknöpfe, reißt am Verschluss seiner Weste und lüftet die Kappe, unter der sich Schweißbäche angestaut haben, die nun ungehindert talwärts drängen. "Na, prima!", sagt Butz und wischt mit einem Taschentuch dagegen an. "Das kommt davon, wenn man plötzlich anhält. Wenn man seinen Takt verliert. Da übt man Rücksicht, und zum Dank spielt schlagartig der Körper verrückt. Und Seidler trödelt nach wie vor im Wald herum." Mein Gott, was war dieser Mensch bloß für eine Bremse. Kaum zu glauben, dass der gestern noch als Überflieger galt.
Butz setzt sich hin und versucht gesündere Gedanken. Hatte Götz-Ribeiro heute Morgen nicht von seltenen Vögeln erzählt, die hier wieder leben würden? Bereitwillig nahm Frau Maas das Gesprächsthema auf. Von Ringdrossel und Alpenbraunelle war danach beim Frühstück vor allem die Rede, zu der andere Tischnachbarn allerdings wenig beizutragen hatten. Auch Butz war da kein Experte und wollte in dem Zusammenhang lieber nichts Falsches behaupten.
Ungeachtet eines Hubschraubers gelingt es ihm nun, aus vereinzelten Nadelwaldstreifen so manches Tirili und Titila herauszuhören. Für eine Weile verschafft das Ruhe. Schließlich erscheint auch Seidler wieder, zwar aufreizend lustlos, aber immerhin ohne Jammern. Butz vertieft sich derweil noch ein bisschen in das muntere Gezwitscher. Möglicherweise trägt das ja zur Entspannung bei.
Je genauer Butz allerdings nach der Vogelwelt lauscht, desto mehr beschleicht ihn der Verdacht, dass dieser Singsang keinesfalls in friedlicher Absicht erklingt. Wütet hier nicht in Wahrheit ein wilder Wettkampf um Wohnraum und Weibchen? Außerdem ärgert ihn zunehmend, dass diese Nervensägen trotz ihrer Lautstärke weiterhin unsichtbar bleiben und sich beim besten Willen nicht beobachten lassen. Als ob dieser Sängerkrieg nur in seinen Ohren stattfände! Als ob er sich ausgerechnet jetzt einen schlimmen Vogelstimmen-Tinnitus eingefangen hätte!
Unwirsch wendet er sich Seidler zu, der immer wieder abstoppt, um sein Smartphone anzustarren. Mein Gott, denkt Butz und drückt sich von der unbequemen Steinfläche ab. Sein Blick sucht das Gipfelkreuz, das restlos von Wolken eingedeckt zu werden droht. Von irgendwoher oben nimmt er langgezogene Töne wahr, die dem Klingelzeichen von Frau Maas ähneln. WieWieWie! macht es unablässig. WieWieWie!
Zum Glück steckt dann doch nicht Frau Maas, sondern lediglich ein Geier dahinter, der auf einer Felsnadel thront. Vielleicht sogar ein Lämmergeier, über deren Gattung Götz-Ribeiro heute Morgen noch so sehr geschwärmt hatte. Aber ehe Butz da nachher etwas Falsches faselt, sollte er sich das Tier lieber ausgiebiger betrachten. Rostrote Brust, schwarzer Ziegenbart. Endlich mal ein Vogel, der sich anschauen lässt!, denkt er, bevor ihm nach und nach auffällt, dass dieser Aasfresser ihn ebenso angafft wie Seidler sein Smartphone. Bald schon weiß Butz nicht mehr, wer hier wen beobachtet.
"Kommen Sie!", ruft er. "Das ständige Zögern bringt uns keinen Schritt voran. Es ist doch ganz einfach, schauen Sie mal hier!", sagt er seinem Hintermann, stampft ein paar Meter zurück und zeigt auf eine Wanderkarte, die Seidler wie einen chinesischen Fragebogen begutachtet.
Wo denn das Problem liege, erkundigt sich Butz und fasst mit seiner freien Hand auf Seidlers schlaffe Schulter. Kinderleicht sei das doch, wenn man die Symbole kenne. Ein Klacks geradezu. Besonders für jemanden, der bei der Selbstpräsentation derart überzeugt habe. Den Beobachtern sei ja förmlich die Spucke weggeblieben. Aber wie auch immer, nun alles noch mal von vorne. Das Bett sei das Hotel, das Dreieck der Gipfel. Hier sei der Start gewesen, dort werde ihr Ziel sein. Dazwischen das, was wie eine Narbe aussehe, dabei könne es sich nur um die Seilbahn handeln. Und direkt dahinter liefen die rote und die blaue Linie dann auseinander. Der rote Weg, den ja Frau Maas und Frau Ananpur unbedingt hochlatschen wollten, sei ja bekanntlich die Rentnerstrecke. Kein Vergleich zu dem blauen Pfad hier, den sie nun gerade hochstiegen. Der sei da schon viel sportlicher und landschaftlich sowieso bedeutend schöner. Das habe auch übrigens ihr erster Beobachter Götz-Ribeiro beim Frühstück bestätigt. Obendrein würde man bei dieser Route fast eine Stunde einsparen. Während sich die zwei Flachlandfräulein noch mit ihren Salontretern abquälten, werde man bereits gemütlich im Hotel sitzen und sich auf den finalen Gabeltest oder die Abschlussgespräche vorbereiten können. Nicht wahr, das seien doch wohl ziemlich vielversprechende Aussichten.
"Ja, ziemlich", klingt es heiser zurück.
Er mustert Seidlers Lippen, an denen sich über Nacht Herpes gebildet hatte. Lange wartet Butz, ob da noch mehr herauskommt als immer nur dieses mundfaule Echo. Doch die einzigen Geräusche, die er wahrnimmt, bleiben Vogelschreie und Hubschrauberlärm.
"Vermutlich wegen der Waldbrandgefahr", sagt Butz unvermittelt. "Weiträumige Überwachung, schon seit vorgestern, schon als unser AC angefangen hat. Rund um die Uhr, pausenlos."
Seidler nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, streicht Salbe auf die Lippen und nickt beinahe unmerklich. In der Folge bewegen sich allerlei Stirnfalten an ihm und, nachdem er Butz die Wanderkarte überlassen hat, allmählich auch seine Beine. Wenngleich nur sehr schleppend.
"Prima!", ruft Butz. "Geht doch! Und Ihr Knie scheint auch wieder zu funktionieren. Immer schön den Rhythmus halten!"
"Man hätte mehr Wasser mitnehmen sollen", stöhnt Seidler und trinkt den letzten Rest aus. "Oder besser direkt im Hotel bleiben."
"Abruptes Abstoppen dagegen wirkt wie Gift auf die Gelenke", meint Butz. "Je mehr man im Takt bleibt, desto ... Genau wie bei dem Rollenspiel gestern, genau die gleiche goldene Regel!"
Schweigend hinkt Seidler über den steinigen Boden. Aus der Hemdtasche zieht er sein Smartphone und steckt es bald wieder ein. Zurück bleibt lediglich ein Gang, der Schritt für Schritt an aufrechter Haltung verliert.
"Immer noch keine Verbindung?", fragt Butz.
"Immer noch keine", antwortet Seidler.
"Naja", sagt Butz. "Kopf hoch!" Nach der nächsten Steigung habe man bereits die Baumgrenze erreicht. Ab da werde alles perfekt überschaubar. Dann käme auch bald schon der Panoramablick. Praktisch könne da eigentlich nichts mehr schieflaufen. Kein Vergleich zu dieser verflixten Kreuzung ...
"Super Panorama!", keucht Seidler irgendwann und starrt auf Nebelschwaden, die vom Tal zur mühsam erkämpften Aussicht hochziehen. "Gleich erkennt man keine Markierung mehr! Vielleicht sollte man doch eher umkehren."
"Bravo!", ruft Butz. "Das waren zwei volle Sätze! Wenn Sie so weitermachen, ruinieren Sie sich noch Ihre Stimmbänder. Das wäre doch schade, oder? Vor allem in Hinsicht auf die heutigen Abschlussgespräche."
"Denken Sie an unsere Vereinbarung", brummt Seidler.
"Gott, haben Sie das tatsächlich ernst gemeint?", fragt Butz. "Kein Wort über ..."
"Genau!", unterbricht Seidler. "Wie abgemacht. Nur unter der Voraussetzung bin ich überhaupt mitgegangen."
Seidler möchte nun doch wieder die Wanderkarte haben. Auf seiner Stirn hat sich mittlerweile eine Furche eingekerbt, die ihn sehr alt wirken lässt. Butz will da lieber gar nicht so richtig hinsehen, sonst steckt er sich bloß auch noch mit dieser Senilitis an. Über ihnen schwebt die Sesselbahn, manchmal winken Touristen herab. Hoch darüber gleitet ein Raubvogel, womöglich sogar ein Steinadler, die sollen ja hier angeblich leben, behauptet zumindest Frau Maas. Nun ja, andererseits hatte diese kunstblonde Naturschönheit auch behauptet, dass sie nur aus Spaß an diesem AC teilnehme.
"Was halten Sie eigentlich von der Maas?", fragt Butz plötzlich. "Irgendwas ist doch bei der faul, oder?"
"Weiß nicht", sagt Seidler und winkt jemandem in der Sesselbahn zu.
"Kennen Sie den etwa?", will Butz wissen.
"Na, haben Sie ihn etwa nicht erkannt?", erwidert Seidler. "Die grüngelbe Jacke, die große Brille."
"Sie meinen doch wohl nicht ...?"
"Dochdoch ..."
"Götz-Ribeiro?! So ein Zufall ..."
"Sie glauben wirklich an Zufall?!", lächelt Seidler, greift an seine Brust und lehnt sich an einen löchrigen Felsen.
Butz schüttelt den Kopf, etwas Unverständliches murmelnd. Dann verlangsamt er seinen Gipfelsturm und stapft zum Hintermann zurück. "Und weiter? Kommt da noch was?", erkundigt er sich.
"Mein Kreislauf ... Spinnt manchmal ... Vielleicht die Höhe!", stöhnt Seidler.
"Kommt da noch was zum Thema Zufall, meinte ich?!", erklärt Butz.
"Ach so", sagt Seidler und hält seine leere Flasche wie ein Mikrofon vor sich. "Wenn Sie vielleicht einen Schluck für mich hätten?"
Reflexartig reicht Butz seine halbvolle Wasserflasche, bevor er sie in Anbetracht des Herpes doch wieder ein Stück zurückzieht. "Wir machen's besser anders!", schlägt er schließlich vor und reißt Seidlers Leergut an sich, um es minimal aufzufüllen.
"Danke!", sagt Seidler, nachdem er sich den Inhalt in die Kehle gezittert hat. Unterdessen tänzelt Butz vor seinem Begleiter herum.
"Ich meine ja nur, dass Götz-Ribeiro die ganze Zeit schon hoch und runter gondelt", fährt Seidler endlich fort. "Aber wenn Sie das für Zufall halten, ist das natürlich Ihre Sache."
Butz will Verschiedenes gleichzeitig dazu bemerken und gerät ins Stottern, ähnlich wie gestern bei der Selbstpräsentation. Notdürftig formt er seinen Mund wie ein O, ballt die Fäuste und sortiert sich allmählich wieder. "Aber wozu? Warum sollte Götz-Ribeiro so sinnlos seine Freizeit verbringen?", will er wissen.
"Sie glauben an Freizeit?!", lächelt Seidler, stellt seine Flasche ab und tastet beide Hände in Felslöcher. "Könnten glatt Augen sein, oder?"
"Laut Plan heißt es: Vormittag zur freien Verfügung!", sagt Butz und stiert so lange zur Sesselbahn, bis ihm der Nacken schmerzt. "Vielleicht nutzt er bloß die Tageskarte aus!", beharrt er, bevor sich seine Beine aufs Neue in Bewegung setzen. "Kommen Sie! Sind nur noch paar Meter!", ruft er beim Weitergehen.
"Moment", erwidert Seidler und reibt sich das Herz. "Da kommt er wieder!"
Sofort kehrt Butz zum Felsen zurück. Gemeinsam mit seinem Nebenmann visiert er einen grüngelben Punkt an, der sich stoßweise nähert.
"Und Sie meinen, dass er uns echt schon die ganze Zeit verfolgt?", flüstert Butz und sieht Seidler nicken und winken. Kurzerhand nickt und winkt er ebenfalls der grüngelben Jacke zu, an der ein Fernglas zu baumeln scheint. Dann bietet er Wasser und schnell auch seinen Rücken an.
"Kommen Sie bitte, Herr Seidler!", ruft Butz, als ob er buckelnd einen Geheimbefehl ausführen müsste. "Ich trage Sie zum Gipfel hoch!"

 

Michael Krupp, *1966 in Mendig. Studium der Germanistik und Psychologie in Marburg und Köln. Freier Autor und Dozent für Kreatives Schreiben in Köln. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften (u.a. in Am Erker, Macondo, Das Magazin); Schlafstörungen und Terranova (Erzählbände) im Verlag Edition Thaleia; Fluchtbild und Spätfolgen (Romane) im Wiesenburg Verlag.