Am Erker 70

 

 
Texte
Am Erker 70, Münster, Dezember 2015
 

Derk Frerichs
Roffs letzte Reise. Eine Vampirgeschichte

Die Dinge lagen, wie sie waren, reglos unter seinem traurigen Blick. Ein zusammengefalteter Pyjama, mit Schmetterlingen bedruckt, darauf ein chinesisches Weisheitsbuch, fünf Paar schwarzer Socken sowie Geschenke in Hülle und Fülle, liebevoll in samtweiches Papier geschnürt, mit kunstvollen Versen beschrieben, gerollte, geschleifte, undenkbar gefältelte Bänder.
Darunter ein Band, rot wie ein Schnitt durch den Hals, mit dem er wohl die ganze Erdkugel hätte umwickeln mögen, wenn von der Endlosschleife im Papiergeschäft ein genügend großes Stück abzumessen gewesen wäre. So hätte man die Dinge, die allmählich begannen, sich zu lösen und wegzutreiben, festhalten können an den ihnen gemäßen Orten, wie es der alte Wiegelmann immer verlangt hatte.
Gerne wäre er dieses Jahr geblieben. Die graumelierten Schimmelpilze bildeten im Wildwuchs Traumlandschaften auf der Tapete und an der Decke. Verschwommenen Blicks lag er Tage auf dem Rücken und starrte auf diese Flecke. Den Zugänglicheren hatte er sich sogar mit einer Lupe genähert und war tief eingedrungen in die Verflechtungen, die in ihn hineinwuchsen, je weiter er sich versenkte, sich mit dem Kameraobjektiv, dem Mikroskop in sie hineinschraubte. Reine, unberührte Fadenwelten, feucht und warm, lagen vor ihm, urtümliche Landschaften ohne Arg, Fehl und Tadel, nur von einem Wunsch getrieben: sich auszubreiten und der Welt ein weiches Bett zu bereiten aus Feinheit, Verästelung und unendlichen bergenden Irrwegen.
Am Vorabend hatte er den alten Mann, dem er seit Jahr und Tag die gelben, schnabelartig verkrümmten Zehennägel schnitt und dessen talgigen Körper er zu baden, an- und auszukleiden sowie mit raketenförmigen Zäpfchen zu versorgen hatte, in einem Zustand der Starre verlassen. Fast rechtwinklig gekrümmt und wie eine voreilig gezimmerte Dachkonstruktion war Herr Wiegelmann auf seinen getigerten Bettvorleger gefaltet gewesen; seine hornigen Zehen hatten sich wild abgestreckt in das Fell gebohrt, die Abstützung auf der anderen Seite war etwas krampfhaft durch Stirn und Nase erfolgt. Die Hände hatten derweil steif und förmlich wie bei einem Skiflieger eng an der Schlafanzug-Hosennaht gelegen. Staunenden Auges hatte der Alte seinem Abgang bzw. Abflug beigewohnt, und Roff hoffte, dass es diesmal in die Hölle gegangen war.
Wiegelmann überließ er bedenkenlos seinem Schicksal. Die eigenen Probleme aber schienen ihm mit einem Mal auf ein nicht mehr zu bewältigendes Maß angewachsen zu sein. Von dem Unfassbaren, in das sich der alte Mann wieder einmal geflüchtet oder wohl eher gedrängt hatte, war im Austausch einiges in unsere so wirkliche und greifbare Welt gequollen. Schon als er die Haustür öffnete, hatte Roff das an dem feuchten Luftzug und angenehm modrigen Geruch nach verwestem Waldboden erkannt, der ihm entgegenwehte. Ein kleiner Teil Unbegreifliches hatte auf dem Bettvorleger zeitweise Gestalt als Anschauungsmaterial für Ungläubige wie Gläubige angenommen, der Rest, fürchtete Roff, würde diesmal nicht wie üblich in den dunkleren Ecken von Wiegelmanns Villa nisten und seines Erwachens harren. Schon während der Gedanke in ihm gereift war, den Alten zu verlassen, hatte er eine aus dem Nichts kommende Aufmerksamkeit auf sich gerichtet gefühlt und um sich herum Unerklärlichkeiten beobachtet. Überall erwuchsen ihm jetzt Verstörungen umfassender Art.
Gerade war es Winter geworden, aber an das Haus, in dessen geringerem Teil er sich eingemietet hatte, wurde ein Stahlgerüst geschraubt. Verhängt war es mit großen, fledermausflügelartigen, schwarz durchäderten Planen, die Wasser wie neugierige Blicke fernhielten. Zugleich waren sie lichtundurchlässig. Zwischen Planen und Hauswand lebte, um die schmalen, bläulichen Feuer von Bunsenbrennern gehockt, eine größere Anzahl junger, schnauzbärtiger Rumänen. Rastlos lächelnd klopften sie Tag und Nacht unermüdlich mit elastischen Hämmerchen auf den Verputz, bis er bröckelte und schneeartig sanft zu Boden rieselte. Anschließend bohrten sie mit kleineren und zarteren Bohrmaschinen filigrane Arabesken in den freigelegten Stein. Die Figuren wurden dann mit einem roten, durchdringend duftenden Lack überzogen. Roff verbrachte größere Teile des Tages damit, diese Männer aus dem Halbdunkel seines Zimmers zu beobachten. Zu ihren Mahlzeiten brieten sie Mäuse und Ratten über kalt leuchtenden Flammen. Er winkte ihnen zu, wenn sie ihn einladend anlachten, wurde aber das Gefühl nicht los, sie hätten von Wiegelmann den Auftrag zu seiner Beschattung erhalten.
Zu Anfang waren sie ein besonderes Paar gewesen, durch die Liebe zum einfachen Leben verbunden als Herr und Diener, in der Schwärze ewigen Staubs und im Dämmergeruch süßer Fäule zusammen hausend. Der Alte schwamm in Geld und bot Roff ein Auskommen und einen Sinn im Tausch gegen Körperkraft und Gehorsam. Beides gab Roff gerne hin, so schwer war er gebaut und so erfüllt von Dankbarkeit für Wiegelmanns Großzügigkeiten.
Seine Hauptaufgabe hatte im Vorlesen bestanden. Wiegelmann, schon weit über achtzig, besaß eine der Vielzahl seiner Jahre angemessene Bibliothek. Unzählige Regalbretter, bis zum Boden durchgebogen, bargen eine unendliche Anzahl Bücher und füllten die vielen Räume bis unter die Decke. Mehrere Stunden täglich hockte Roff vor dem Alten auf dem Boden im Staub, las mit zunehmend erstickter Stimme aus den großen Büchern der Welt vor und stammelte laienhaft übertragene babylonische Gesänge, indische Epen und russische Wirrheiten ins stets aufmerksame Gemurmel, Stöhnen und Nicken des alten Wiegelmann hinein, das keine Unterbrechung duldete.
Zum Essen und Trinken aber war das Ritual ausgesetzt. Weiches Regenwasser genoss man in reichlichen Mengen, so wie es vom Himmel hinabgeströmt, in einer Tonne aufgefangen und durch Leinentücher gefiltert worden war. Nach Sonnenuntergang gab es sauren Wein, süßen Likör und letztendlich den abendlichen gelben Saft. Diese Lektion hatte Roff erst mühsam lernen müssen. ,,Mein gelber Saft", pflegte Wiegelmann zu sagen, wenn er das vom Diener aus seiner schlaffen Blase herausgeklopfte Glas an die Lippen setzte, ,,flüssige Sonne, Lebenselexier, warmer Strom aus Gold, komm zu mir und erfülle mich mit Kraft und Zuversicht!" Mit jedem Schluck blühte Wiegelmann auf und wuchs auch rhetorisch: ,,Was in mir ist, ist gut. Wir sind nicht von dieser Welt, und sie versucht, uns niederzuringen, auszudörren, zu vernichten mit allen Mitteln. Mich selbst, Körper und Geist, führt sie gegen mich ins Feld, meine Bedürfnisse und meine Scham, aber ich bin rein, und von meiner Reinheit gebe ich diesem geballten Klumpen Dreck, dieser Ansammlung schmutziger Gase und Lüfte nur so viel, dass sie mich leben lässt. Ich nehme die Welt in mich auf und veredle sie zu großer Reinheit und Stärke, aber ich gebe nicht mehr, als ich muss. Denn der Tausch, den uns die Welt anbietet, ist nichts als eine aufgeblasene Lüge. Sie macht uns glauben, dass sie unser Leben erhält mit ihren Mitteln und sich dafür dankbar unseres Schmutzes annimmt. Was für ein Unsinn! Was wir aufnehmen, ist Übel und Gift, und wir verwandeln es in Vollkommenheit, jeden Tag, geduldig, und machen so diesen Ort zu einem besseren mit jedem Atemzug, den wir von uns geben."
Damit aber hatte es nun ein Ende. Während Wiegelmann, seine Hinterbacken zusammengekniffen, in Reinheit durch irgendein Nirwana schwebte oder seine Aura über höllischen Feuern verdunstete, hatte Roff die Abwesenheit des Herrn dazu genutzt, den Dienst zu kündigen. Ganz geheuer war er sich selbst als Insel nicht; während er davontrieb, dachte er daran, dass er es noch nie hatte ertragen können, auf sich allein gestellt die Welt zu durchwandern.
Eigentlich hatte er als Mensch erst im Dienst bei Pensionär Wiegelmann Halt gefunden. Aus der Welt der Jugend und der Ausgelassen-, aber auch Verlorenheit war er in die der Rentner und Pensionäre gewechselt. Bald begriff er, dass hier Leben jenseits der Verwertung und der Hast möglich war und Gelegenheit zum Genuss bestand. So wurde Roff zum demütigen Diener des Alten. Er lernte die Ruhe zu schätzen, die ein Weltempfänger nach über einem halben Jahrhundert Hierseins auszustrahlen vermag. Die Friedlichkeit von Cellokonzerten wurde ihm zuteil, im Sessel sitzend, die Beine in eine Schafwolldecke gewickelt und auf einen Hocker gestreckt, Pantoffeln an den Füßen und eine dampfende Tasse Tee auf dem Tischchen neben sich - so sah er bei Wiegelmann ein Dasein in Selbstgenügsamkeit verkörpert, von dem er bisher noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Der Alte verlangte nichts von der Welt als das, was er schon besaß, und er wusste selbst aus den kleinsten und geringsten Dingen Befriedigung und Genuss zu ziehen.
Eines Sommernachmittags hatte Roff Wiegelmann dabei zusehen dürfen, wie er über Stunden das Kreisen einer Fliege im sonnendurchfluteten Wohnzimmer verfolgte. Zunächst ruhigen Blicks mit niemals nachlassender Konzentration, dann mit Hilfe eines Bleistifts auf einem Stück Papier. Mit Gelassenheit brachte Wiegelmann Zug um Zug die Wege der Fliege zur Aufzeichnung, bis am Ende ein Ornament vor Roffs Augen stand, das er staunend betrachtete, während der Alte nur lächelte. Das, so gab er ihm augenzwinkernd zu verstehen, sei nur ein Teil des Geheimnisses, das Leben ausmache, nichts als ein Ausschnitt aus einem Tag im Leben einer Fliege. Sicherlich kein unbedeutender Tag, und auch die Fliege sei durchaus von Bedeutung gewesen, ebenso wie das, was sie mitzuteilen gehabt hätte, aber eben nur ein Tag, eine Fliege und ein Bild.
Allmählich übernahm er Wiegelmanns Philosophie des Bei- und An-Sich-Haltens. Wo Roff sich in der ersten Hälfte seines Lebens verströmt hatte, wollte er nun seine Lebenskraft hüten. Die Welt des betreuten Wohnens und der staatlichen Fürsorge enthüllte ihm mehr und mehr unbekannte, verführerische und faszinierende Seiten.
Manches an der Wiegelmannschen Lebensführung konnte sich Roff allerdings nur schwer aneignen. So aß Wiegelmann Woche für Woche Erde. Den Leib der Welt, wie er es nannte, die Ausscheidungsprodukte von Millionen unterschiedlicher Organismen, die alle in ihrer Versklavung sich das Kranke der Welt zuführen und Manna hervorbringen mussten. Alles Leben war nur Sklave der Dinge, Steine, Gase und Flüssigkeiten beherrschten den Planeten. Das Leben kroch zuckend darüber hin, allein der Aufgabe geboren, den Abfall dieser Welt in Gold zu verwandeln und sich dabei auch noch gegen jede Vernunft jedes noch so starken Geistes wohlzufühlen. Seiner Ohnmacht und seiner Fesseln war sich Wiegelmann sehr wohl bewusst, aber zumindest einen Teil des Guten, das er von sich gegeben hatte, wollte er wieder zurücknehmen.
Also sammelte Roff lehmige Böden, fette schwarze Muttererde, rötliche Ackererde aus Mitteldeutschland oder feinen Dünensand von der Küste. Und Woche für Woche aß Wiegelmann fein dosiert davon, und es bekam ihm gut - aus handfesten Gründen, wie Roff in den entsprechenden Journalen nachlas. Reichtum an Mineralien, Säuberungseffekt für den Magen, Verbesserung der Darmflora durch hochwertige Bakterienkulturen. Eines Tages ertappte er sich dabei, selbst mit knirschenden Zähnen eine Faust voll Erde zu kauen, und es überkam ihn mit jedem Biss und jedem Schlucken ein immer tieferer Frieden. Die Rauheit und Körnigkeit des Bodens verlor sich in der Vermischung mit Speichel und entfaltete eine nie gekannte Würze in Roff. Was er aß, schmeckte nach Meer und Bäumen, nach dunklen Wäldern, wogenden Roggenfeldern, und ganz entfernt erinnerte es in seinem Duft an ein einst gewusstes, aber im Laufe der Jahre vergessenes Geheimnis.
So waren sie zusammengekommen, Wiegelmann und Roff. An das, was sie geschieden, dachte Roff an diesem dunklen Morgen nur kurz, als er sich allmählich darüber klar wurde, dass er zwar zu Hause und bewegungslos dasaß, aber sich doch bereits auf dem Weg befand. An die einzige Steckdose im Raum war ein Verteiler angeschlossen, der nur die gleichzeitige Inbetriebnahme dreier Geräte erlaubte. So saß er wie in jedem Winter nach dem Aufstehen im Dunkeln. Finsternis umgab ihn, durchdrungen bloß vom rötlichen Schimmern des Toasters, dem leisen Gluckern der Teemaschine und der aus dem Radio in den Raum strömenden Hysterie. Alle drei hatte er über die Jahre liebgewonnen und zog sie bei weitem dem grellen Schein seiner Schreibtischlampe vor.
Es war noch früh, halb sechs, aber da der Zug bereits um kurz nach sechs gehen sollte, stand Roffs Koffer schon wartend an der Tür. Roff fühlte sich gedrängt und zögerte, den Blick misstrauisch in die Finsternis vor seinem Fenster getaucht. Dort draußen war er schutzlos aller nur denkbaren Willkür ausgeliefert. Und war das Dunkel dort draußen wirklich die Finsternis eines Morgens oder nicht doch vielleicht die eines späten Nachmittags? Wenn er schlafend durch einen ganzen Tag gesackt war, dann versuchte er nun einen Zug zu erreichen, der bereits vor zehn Stunden die Stadt verlassen hatte. So stand er auf der Schwelle, entweder ein weithin leuchtendes Sinnbild der Lächerlichkeit zu errichten oder in eine neue Zeit und ein neues Leben aufzubrechen. Noch konnte er ,,Nein" sagen, sich niederlassen, seinen Nachmittags- oder Morgenkaffee einnehmen und den Dingen und der Zeit dabei zusehen, wie sie sich geraderückten oder geradegerückt wurden, ein für allemal. ,,Aber es liegt nicht an mir, mein Leben einzurichten, geschweige denn die ganze Welt", murmelte er sich halb aufmunternd, halb niedergeschlagen zu, ,,wie sollte ich das auch bewerkstelligen über die ganzen langen Jahre? Wenn jemand mich durch das Spiel hindurchschiebt, so sollte ich ihm vertrauen und abwarten, was geschieht. Wer bin ich denn, mich den Dingen entgegenzustellen?" Nur wusste er nicht genau, ob er nun bewegt wurde oder ob er der Beweger war, und wie hätte er das auch feststellen können? So stürzte er in die Nacht hinaus, in die Dunkelheit eines zu Ende gehenden oder anbrechenden Wintertags. Hinausgesogen und -getrieben gleichermaßen, erschien er im Geviert der Tür, hielt kurz inne und wirbelte dann davon. Die Dunkelheit war verändert. Schon beim ersten Blick aus der Tür hatte er gesehen, wie sich bedrohliche Berge von Dunkelheit aufbauten und langsam in den Weg zum Bahnhof einrollten. In dieser Finsternis lag mehr als die übliche Verstörung, die das Lichtlose mit sich bringt. Etwas war am Werk, das nicht dem Lauf der Sonne gehorchte und nicht verflog, wenn ihre Strahlen in die Mauern der Stadt eintauchten und spiegelnd in Sekundenschnelle eine Welt aus Glanz in Versponnenheit errichteten. Dieses wollte und würde bleiben - ungeachtet allen Wechsels von Tag und Nacht, Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Roff war nur froh zu gehen, bevor dieses Unheil zu voller Kraft erwacht und zur Gänze entfaltet war. Zwar suchten klamme Nachtfinger in seinen Hals zu fahren und ihn am Atmen zu hindern, und Pfützen klebrigen Regens und Öls saugten an seinen Schritten, doch er ging voran, das Gesicht mit einem Schal umwickelt und jeden Schritt sorgfältig planend und mit Kraft ausbalancierend. Durch die blendend herabstürzenden Lichtkaskaden der Straßenlaternen und Leuchtreklamen manövrierte er vorsichtig sich und die Koffer, ohne Blick auf den Faustschlag morgendlichen Verkehrs und die ihrerseits blicklosen Marionetten des Todes, die mechanisch schaltend und vorwärtsruckelnd die Straßen in ihrer Mitte bevölkerten. Jedes Mal nahm ihm diese Bösartigkeit die Luft zum Atmen, aber er wusste auch um die Sinnlosigkeit eines Kampfs. Sie waren der Teil der Hölle, der bereits in einem zähen Strom durch unsere Welt floss seit Jahr und Tag, der aber beherrschbar erschien durch die Bahnen, in die er gelenkt war. So schlich Roff mit demütig gesenktem Blick durch ihre Reihen, und sie ließen ihn gehen als den Diener, der zu sein er mit niedergeschlagenen Augen vorgab.
Die letzte Bewährungsprobe erwartete ihn am Bahnhof. Noch nie hatte er diese Halle durchqueren können. Überall saßen, standen oder lagen graue Gestalten, ihre Gesichter abwechselnd in Zeitungen vergraben, verschlossen oder völlig erstarrt, während andere in immer gleichen Rhythmen über die Fliesen zappelten, niemals einen Weg beginnend und kein Ziel je erreichend, so waren sie gebannt an diesem Ort. Hier waren schon viele versunken oder in die Irre gegangen, die mit großen Hoffnungen auf Flucht eingetreten waren. Aber er fühlte sich geborgen. Die Sammlung bunt eingewickelter und mit Liebe zusammengestellter Geschenke in seinem Köfferchen bahnte ihm den Weg und verschaffte Unberührbarkeit. Er war nicht von dieser Welt und aus dieser Zeit, sondern nahm seinen Weg tiefer, auf einer Spur der Erinnerung, und war auch gewillt, ihn dort fortzusetzen. Das Böse blieb fern, und er hatte seine Klarsicht bewahrt dieses Mal angesichts des Widersachers.
Auf dem Bahnsteig bestieg er den Zug, der ihn seit Jahren in die Heimat brachte. Zwar waren die roten Kunstledersitze, messinggelben Ablagegitter und Schiebetüren nicht mehr, die im Takt der Räder und Kurven rüttelten, klapperten und quietschten. Der Zug hatte sein Äußeres mit der Zeit verändert. Die Wagen waren aufgestockt worden, man hatte ihnen einen leuchtend roten Anstrich zusammen mit zeitgemäß piepsender Elektronik verpasst. Und auch die Menschen von früher waren bestenfalls noch Schimären. Die unverstandenen Reste alter Zeiten bevölkerten zwar den Zug, erstaunten ihn aber nicht mehr. Auch Unerfreulichkeiten fanden sich stets. In manchen Abteilen saßen Frauen und starrten stumm, blass und benommen aus dem Fenster. Heute hastete Roff an diesen Abteilen vorbei, gespannt und mit einer leichten Gänsehaut hier und da, allenfalls öffnete er rasch die Tür und zog mit abgewandtem Blick die Vorhänge zu, um später dann unbehelligt und ohne Beklemmungen den Weg in den Speisewagen gehen zu können.
Schwerer in den Griff zu bekommen waren die Momente der Überfüllung, die sich immer wieder aus dem Nichts heraus ereigneten und zusammenballten. Gerade noch war er friedlich durch das leere Halbdunkel eines Gangs geschwankt, plötzlich traf er auf eine Ansammlung verschiedenster Personen; beim Versuch, umzudrehen, stieß er sogleich auf eine ebensolche Gruppe schwatzender und Koffer schleppender bzw. ziehender Personen, die unter der Last ihres Gepäcks teils seufzten, in jedem Fall aber rot verschwitzt nach leeren Plätzen Ausschau hielten und unbeirrt auf ihn zustrebten, bis er sich plötzlich gefangen sah in einem Gemenge von Köpfen, stoppeligen Barthaaren, Hautfalten, Körperdünsten und Kindern, die mit ihren kleinen Fäusten zugleich ungeduldig und neugierig an seinen Hosenfalten zerrten oder ihren dicken Kopf mit Wucht in seine Genitalien stemmten. Nun begann in der Regel ein von untergründigem Stöhnen begleitetes Aufeinandereinteufeln, das letztlich in völliger Starre und Bewegungslosigkeit endete. Nichts ging mehr, man ließ sich auf die mitgebrachten Gepäckstücke nieder, zerdrückte Bücher, Schallplatten, Butterbrote und sorgfältig gebügelte Hemden mit gewichtigem Hinterschinken, ließ Plastik mit einem Knall zerplatzen und war letztlich doch froh und wartete ab, bis der nächste Bahnhof wieder Unruhe schüren würde. Solche Ereignisse ließen sich immer nur mit großer Ruhe und absoluter Gelassenheit ertragen.
Roff setzte sich in ein leeres Abteil und sah aus dem Fenster. Der Schnee schimmerte kristallen in der bläulich durch Nebelschleier leuchtenden Sonne. Muntere Hasen jagten hakenschlagend über abgeerntete Felder. Der Zug zog seine Lärmlinie ungerührt, Eisen auf Eisen schleifend und quietschend durch die Landschaft. Roff war beruhigt. Ihm drohte keine Gefahr. Abgesehen vom entfernten Rufen und Singen einer Gruppe betrunkener Fahrgäste sowie mitunter lautstark vorbeitaumelnden Einzelpersonen hatte Roff nichts bemerkt, das den Rahmen der Dinge hätte sprengen können. So entschloss er sich zu einem Nickerchen, wollte sich auf die Seite lehnen, die Beine übereinanderschlagen, sein rechtes Ohr in die Mulde der Kopfstütze schmiegen und träumen. Zuvor aber musste er sich erleichtern.
Als er die Toilettentür öffnete, blickte ihn aus einem weißblau gestreiften Schlafanzug ein kniender, über das Klo gebeugter Wiegelmann leichenblass an. Lautlosigkeit trieb aus seinen Augen hervor und umhüllte wie eine Wolke auch Roff. Aus dem Mundwinkel des Alten quoll Blut. Das musste von einer Wunde im Inneren herrühren. Er gurgelte Unverständliches. Roff war erstaunt, nickte beschwichtigend und versprach baldige Hilfe. Als aus dem Mund des Alten ein blutiger Sturzbach ins Pissoir sprudelte und plätscherte, entfernte Roff sich, Wiegelmanns stumm seufzenden, ächzenden Protest hinter sich lassend - mit der bestimmten Absicht, dem Albtraum, der sich hier anbahnte oder bereits ablief, vorläufig keine Beachtung zu schenken.
Im Abteil hatte sich nichts verändert. Mit einem Mal schämte Roff sich entsetzlich. Wenn er doch nur etwas Ordnung gehalten hätte in seinem Leben. Wie sollte es nur werden, wenn bald die bleichen Damen schweigend durch den Zug ziehen, leere Blicke in die Abteile werfen und vom Gang draußen kalt gegen die Scheibe hauchen würden oder Wiegelmann in seinem blutbesudelten Schlafanzug ziellos und verwirrt durch den Gang taumelte? Was würden die anderen Fahrgäste von ihm denken? Und was sollte er bloß tun? Ja, im Grunde genommen begriff er gar nicht, worum es eigentlich ging in dieser Sache, in die er mit seiner Geburt, unwillentlich, wie er auch sich selbst gegenüber jetzt noch einmal betonte, verwickelt worden war. Er konnte ja nicht mal die Augen öffnen zu diesem Zeitpunkt, sie waren auf eine eigenartige Weise verklebt, wenn nicht sogar gelähmt von ihren Muskeln her, die nur als elende weiße Strähnchen noch an ihren Knochen und Sehnen hingen, erschlafft und vollständig bewegungslos, als lohne sich die Anstrengung nicht mehr, als seien sie für immer still jetzt.
Als Roff dann doch einmal die Augen öffnete, war es ganz ruhig im Zug. Eine gewisse Atemlosigkeit überkam ihn, als ob nun gleich mit einer Offenbarung zu rechnen sei. Stattdessen trat ein unscheinbarer, durchsichtiger Schaffner ein, der mit schwebend aus der Ferne andringender Stimme sagte: ,,Ihre Fahrkarte, bitte!", ihn kurz darauf, in einen Moment gesteigerter Spannung und Aufmerksamkeit hinein, in dem sich die Bäume draußen lauschend zum Abteilfenster beugten und ihre Zweige raschelnd vorüberstreifen ließen, fragte: ,,Sind Sie Herr Roff?" und, als der freudig bejaht hatte, ,,Würden Sie bitte einen Moment mit mir kommen?" fragte. Roff erhob sich zu seinem eigenen Erstaunen und trat hinter dem Schaffner auf den Gang hinaus, nicht ohne sich zu entschuldigen, als er in einem Moment der Achtlosigkeit einfach durch die Gestalt hindurchgriff, um sich im schwankenden Zug Halt zu verschaffen. 
Sie gingen eine Weile. Inzwischen war es dunkel geworden, und im flackernden Licht alter, im Versagen begriffener Leuchtröhren löste sich die Gegenwart des Zuges Schritt für Schritt in ihre Bestandteile auf. Schicht für Schicht enthüllten sich die ineinandergeschobenen Vergangenheiten, aus denen sie sich zusammensetzte. Und Roff befürchtete fast, gleich den Rauch einer Dampflokomotive am Fenster vorüberziehen zu sehen und im gleichen Moment zu Staub zu zerfallen. Der Zug war jedenfalls, soweit er es überblicken konnte, inzwischen so leer wie die Landschaften, durch die er zog. Schließlich winkte ihn der Schaffner in ein Abteil. Kaum war Roff eingetreten, wurde die Tür hinter ihm zugezogen und mit einem endgültigen Klicken verschlossen. Zunächst waren nur Schemen zu erkennen. Als aber eine Glühbirne aufleuchtete, sah er sich zwei Uniformierten gegenüber, die ihn musterten. Abgesehen davon, dass sie eine Funktion auszuüben schienen, war ihre Zugehörigkeit schwer zu bestimmen. Am ehesten wirkten sie noch wie Soldaten, aber die Schirmmützen, die sie trugen, machten dies wieder unwahrscheinlich.
"Wir", begann der eine, "haben hier einige Vorwürfe gegen Sie vorliegen, erhoben von einem Doktor Wiegelmann, den wir in bejammernswertem Zustand in einem der Zugaborte angetroffen haben. Er behauptet, von Ihnen verschleppt, vielleicht auch verfolgt, in jedem Fall aber jahrelang misshandelt und gequält worden zu sein. Sie hätten sich bei ihm eingeschlichen als vorgeblicher Altenhelfer, seien dann aber rasch dazu übergegangen, aus seiner hilflosen Lage als Senior Nutzen zu ziehen. So hätten Sie ihn unter dem Vorwand, es sei nur zu seinem Besten und diene ausschließlich der Verlängerung seines Lebens, gezwungen, seine eigenen Abwässer zu trinken. Weiterhin habe er Dreck essen müssen und sei gezwungen worden, sich in Schlamm zu wälzen. Dies alles sei unter absurden Predigten von der Bösartigkeit und Bedrohlichkeit der Welt geschehen, deren Lauf man sich aus Gründen der Selbsterhaltung zu verweigern habe. Seine gesamte Wohnung und er selbst seien von Ihnen mit Berufung auf solche Wahngebilde gezielt in einen Zustand der Verwahrlosung überführt worden. Widerstand sei von Ihnen mit der Drohung erstickt worden, es könne sonst rasch vorbei sein mit seinem Leben, denn die Welt sei gnadenlos in solchen Belangen. Heute nun sei er Ihnen entflohen unter morgendlicher Vorspiegelung des eigenen Todes, aber Sie seien ihm zum Bahnhof und in den Zug gefolgt, hätten ihn hier auf der Toilette gestellt, blutig geschlagen und vorgehabt, ihn bei nächster Gelegenheit aus dem Zug zu werfen."
Zufriedenheit glänzte Roff aus den Augen des beschirmmützten Beamten entgegen. Hier, dachte er, ist sich einmal wieder jemand sicher, gute Arbeit geleistet zu haben. Die Vorwürfe waren auf gewisse Art plausibel. Und so genau wusste Roff es auch kaum noch. Er, der zitterte vor den großen Mächten, die ihn umspülten, und sie zugleich anbetete, war nicht in der Lage, sich zu entsinnen, ob er nun einen alten Mann in Angst und Schrecken versetzt hatte oder der ihn. Beides erschien ihm gleichermaßen überzeugend, so dass er lieber schwieg und nur ratlos mit der Schulter zuckte und die Schirmmützen anlächelte, während sie ihn entschlossen verschnürten.
Hinter ihrem Rücken würde sich bald Wiegelmanns Macht zeigen. Wie sich die schwarzen Schwingen eines Vampirs allmählich mit leisem Knistern entfalten und nach und nach erst den Mond, dann immer mehr Sterne verdunkeln in einer klaren Nacht, so würde Wiegelmann ein Abteil nach dem anderen in seine Gewalt bringen, bis sie überall ihm verfallen sein würden und dem Blut, das er so großzügig verströmte. Gebannt würden alle an Wiegelmanns aufgeplatzten, leise flüsternden Lippen hängen und ihm huldigen. Die Betrunkenen würden still sein und halb lächelnd lauschen, während draußen ein Unglück nach dem anderen, zerfallende Häuser, brennende Autos und weinende Kinder vorüberziehen würden im Halbdunkel alter Laternen. Roffs schemenhafte Geliebte würden sich entblößen mit neuem Feuer in den müden Augen, und alle seine Erinnerungen würden Wiegelmann zufließen und in ihm neu erstehen. So würde Wiegelmann seinen, Roffs, letzten Reichtum in sich aufnehmen und aufsaugen, seine Kraft und Zuflucht, seine bittere Vergangenheit, seinen Trost ihm rauben. Roff fühlte sich dennoch nicht einmal unwohl, ja geradezu geborgen als Gefangener seiner Fantasien und Erinnerungen, ein Nichts, eng verschnürt, das keinen Atemzug tun konnte ohne den Willen anderer. Jedenfalls, Wiegelmann war hier und sicherlich, das war Roff nun ganz klar, mit besten Absichten. Er bereute schon seine übereilte Abreise, die schmähliche Flucht. Aber es würde ihm nichts geschehen, vermutlich war alles nur eine Warnung, eine Belehrung, ein Exempel, das statuiert wurde, ein Wink, oder Hinweis, der ihm sagte, wohin sein Weg zu gehen habe. Und bis dahin, bis zur Entscheidung würde er eben das Leben einer Roulade zu führen haben, hin und her rollend auf einer Sitzbank und schwitzend Aug in Aug angesichts einer rotglühenden Heizkörperverkleidung.
Seine beiden Wachen hatten schon ihre Schirmmützen abgenommen und stellten zwei glattrasierte Eierköpfe zur Schau. Bald knöpften sie auch, stöhnend vor Hitze, ihre Uniformjacken auf, entledigten sich ihrer und der darunter liegenden Hemden und saßen schließlich da, mit hervorquellendem schwarzen Brusthaar der eine, mit zuckenden Muskeln unter schweißperlender Haut der andere. Sie sprachen mit unter Würgen mühsam hervorgestoßenen Worten über Fragen der Zimmerpflanzenpflege und über Kochrezepte. Das Gespräch verlief in großer Ernsthaftigkeit, aber langsam und zäh, als ob beide erst lernten, sich ihrer Zunge zu bedienen. Wie an eisernen Haken schoben sie sich ihre frisch gepressten Worte zu, berochen die noch dampfenden Erzeugnisse des Gegenübers, nahmen sie grunzend zur Kenntnis und antworteten mit einem behäbig durch die Luft schaukelnden Gegenwort. Zuweilen trieben diese Worte so nahe aneinander vorbei, dass sie sich verhakten, im Kreis drehten und langsam zu Boden sanken. Es gab viele Arten von Pflanzen. Grünpflanzen meist. Ihr Durst war unersättlich, gerechnet aufs Ganze. Im Einzelnen verschieden. Es gibt Abhängigkeiten von der Jahreszeit. Einige Pflanzen stehen im Flur und gedeihen nicht. Andere scheitern im Zimmer. Manche treiben desto mehr Läuse aus ihren Blättern, je näher sie am Bett eines Menschen stehen. Menschenläuse können Pflanzenläuse werden. Das muss ausgeschlossen werden. Nichts ist jemals auszuschließen. Viele Pflanzen gedeihen in gekauftem Kompost. In eigenem Kompost. Auf Gräbern von toten Mäusen, von Menschen auf Friedhöfen. Palmen auf Friedhöfen ernähren sich von den Dünsten der unter ihren Füßen verrottenden älteren Herrschaften. Auf liebevolle Art saugen sie die frisch verflüssigten, oft schleimigen Pilz- und Schimmelfäden ein, lassen sie durch ihre Wurzeln gleiten, zerlegen sie in Nützlichkeit und schleudern sie als grüne Pracht gen Himmel. Insekten nützen wenig im Falle zerfallender Zimmerpflanzen. Man kann sie aber kochen, braten, grillen. Käfer haben einen nussigen Geschmack. Regenwürmer sind gebraten wie Zwiebelringe, aber zarter. Gerichte mit säuerlicher Note sind erfrischend gerade auch im Winter, wo man sich sonst mit schweren Speckwaren zu behelfen versucht. Aber in der Zitrone stockt die Milch. Der Magen übersäuert wie von Tee, wird gegerbt, zerfällt in Stücke, die sich wie altes Leder um den einfallenden Nahrungsbrei wickeln und sich so leichter wieder nach außen pressen lassen. Aus dem After tritt dann Blut aus. Blut im Inneren eines gebratenen Hähnchens ist eine Delikatesse des armen Mannes und erblühenden Kindes.
Unter diesen Reden verging die Zeit, und Roff schluckte ergeben an seinem Knebel und viel Speichel. Dann öffnete sich die Tür, und noch mit geschlossenen Augen spürte er, wie etwas nach seinen Füßen griff und man ihn nach draußen in den Gang zu ziehen begann. Ohne auf seine Fallhöhe achtzugeben, zog man ihn, mit nun aufgerissenen Augen, gleichgültig auf den Boden und schleppte ihn durch die wackelnde Tür nach draußen. Als die Hände ihn schwerfällig um die Ecke biegen wollten, stieß sein Kopf nur leicht an die Schiebetür. Der Stoß wurde auch abgemildert durch den schwarzen Gummistreifen, der im Moment des Aufpralls einen schmatzenden, benutzerfreundlich gedämpften Laut von sich gab.
Roff öffnete und schloss seine Augen unregelmäßig, unentschlossen, was nun das kleinere von zwei Übeln sei. Ob dem Grauen, das er blinzelnd in wachsender Ungläubigkeit wahrzunehmen schien, besser männlich mit offenen Augen und in vollem Bewusstsein entgegenzutreten sei oder ob es eher angeraten war, die Augen so fest wie möglich zuzukneifen und sich etwas Schönes zu denken, etwa, dass dies alles nur ein Traum sei und sich in Wahrheit gar nicht ereigne. Unglaublich genug war es ja, was er sich nun ansehen und anhören musste, als er sich resigniert in sein Schicksal ergab und damit abfand, dass ihm offenbar in seinen letzten Momenten noch einmal ganz besonders Schreckliches, Unglaubliches und Abstoßendes widerfahren sollte. Da standen sie also um ihn herum, mit bleichen Gesichtern und zerrissenen Kleidern, die Geliebten seiner Vergangenheit neben Passanten, die nur für Sekunden sein Gesichtsfeld durchkreuzt hatten, ehemalige Mitschüler Arm in Arm mit Heizungsmonteuren, irgendwelche Leute, Verwandte, die aneinandergepresst versuchten, etwas Wärme zu erhaschen in dem überraschend sich immer mehr abkühlenden Zug. Schon begannen die Scheiben zu vereisen, und das Blut auf den Lippen einiger Umstehender schien bereits zu gefrieren. Man hatte sich zusammengerottet, natürlich unter Führung Wiegelmanns, der mit napoleonischer Geste einen heftig blutenden Armstumpf in seine Schlafanzugjacke geschoben hatte, um - und allmählich begriff er es - ihn, Roff, zu verzehren. Schon zerrten Hände an seinen Schnürsenkeln, bissen kräftige weiße Zähne in seine Schuhsohlen, um jedoch bald ratlos davon wieder abzulassen. Dort war wenig zu gewinnen. Wie er aus dem allgemeinen Gemurmel entnahm, war man überein gekommen, ihm die Schuld an der ganzen Lage in die Schuhe zu schieben. Man werde Roff nun vernichten, auflösen in Magensaft, zur Nicht-Existenz verdammen. Schon bald speisten sie an seinen Unterschenkeln, friedlich knabbernd einige, andere wild zerrend und mit dem Kopf rüttelnd wie Raubtiere. Roff nahm nichts wahr außer einem Gefühl der Erhebung und Taubheit. Verwundert nur blickte er an sich hinunter auf die schnüffelnden, blutverschmierten Gesichter, die aufgerissenen Münder, in denen häufig wacklige Gebisse klapperten. Nicht wenige fügten sich selbst größere Verletzungen zu als ihm bei diesem Mahl, so schien es. So begannen auch sie zu bluten, und die Umstehenden stürzten sich dann umstandslos auch auf sie. Allmählich brach ein großes Durcheinander aus, die beiden Eierköpfe sah man ineinander verbissen in ihrer Kabine auf- und abrollen. Der eine hatte die Zähne in dunklem Brusthaar vergraben, der andere grunzend Maul und Klauen in zuckende Muskeln getaucht. Wiegelmann hatte gleich zwei minderjährige Knaben, die gierig von unten nach seinem Armstumpf fischten, und eine ältere Dame drängte sich mit mächtigem Busen und aufgerissenem Mund von oben an den Alten heran, unersättlich nach seinen triefenden Lippen schnappend. Zudem wurde es immer kälter, durch offene Türen und Fenster strömte flüssiger Eiswind herein. Bereits knirschte das Beißen und Zerren überall unüberhörbar. Das Fleisch brach unter dem Ansturm der Gier in Stücke wie auch die Gliedmaßen, bloß Äste im Wind. Roff ließ unter diesen Umständen Beine Beine sein und schleppte sich zum nächsten Ausgang, um die Tür zu schließen. Durch das Stöhnen und Reißen von Sehnen, das erschöpfte Brechen von Knochen und Wirbeln kroch er zur Tür, um das Elend wenigstens im Zug zu behalten und es nicht auch noch hinauswehen zu lassen in die unschuldige Welt dort draußen, die nichts ahnend ihren Schlaf schlief. Keines der Wesen kümmerte sich mehr um ihn, der in einem nun schon üblen Zustand, kaum noch bestehend, mit halben Armen, Händen und ausgerissenem Kieferknochen sich hinausschleppte, halb in die Tür warf, nach dem roten Griff angelte, ihn hoffnungslos verfehlte und hinabrutschte, hinausrutschte in die eisige Welt dort draußen, die höhnisch und schwarz vorüberpfiff, gleichgültig und spöttisch nur ihr Lied singend. Das ist das Ende, dachte er, als er nun als Rumpf bloß noch auf einem Luftpolster außen am Zug vorbeizog, ein letztes Mal mit blutigen Wangen die Fenster streifte und einen rosafarbenen Abdruck, einen feuchten Kuss zum Abschied auf die Scheiben drückte. Dann bohrte sich sein Rumpf wie ein Geschoss in die Erde.

 

Derk Frerichs, *1965, Lehrer, aus Ostfriesland, wohnt und staunt in Frankfurt.