Ingo Arendt
Wieder ist er eingedrungen. Während der letzten Monate behelligte er mich des öfteren. Einziger Besuch, der mir galt. Obwohl er mich bat, daß sein Penis wie früher in meine Scheide dringen dürfte, wirkte er anfangs amüsant und geistreich, doch mit der Zeit unterschied ihn nichts von den Besuchern, die manchen Mitpatienten beehren, um Entrüstung zu spielen, sich selbst zum Beweis, daß sie hier nicht hingehören. Dabei können wir Kranken nicht klagen. Wir gewöhnen uns an das Haus und wollen es nicht missen. Weshalb vermag man das draußen nicht einzusehen. Ich stehe früh auf, werde dick an der Dampfkost, und falls bei Einbruch der Dunkelheit mein Schlaf mißlingt, hilft das Personal mit bewährten Mitteln nach. Mein Pfleger heißt Stephan, ist dreiundzwanzig Jahre jung, jetzt im Herbst noch braungebrannt und hoch aufgeschossen. Es tut mir wohl, wenn er mich mit Vornamen nennt. Seine Zärtlichkeit beim Verabreichen der Spritze.
Wenn dieser abgemagerte Schwächling, der jetzt eingeliefert wurde, sich zur Besuchsfrist pünktlich vor der Trennwand aus Panzerglas aufbaute, hielt Stephan ihn höflich, aber bestimmt hin, trat zu mir ans Bett und fragte: "Marianne, wollen wir ihn reinlassen?" Meist bejahte ich, denn ich hegte die Ahnung, daß solch Gescheiterter sich gelegentlich vormachen mußte, er sei gesünder als ich. Nach zwei Stunden das mitfühlende Lächeln Stephans, dessen Aufmerksamkeit die beharrlich schwarzen Fingernägel des Besuchers nicht entgingen, entschädigte für den befremdlichen Wortschwall meines Bekannten. Ich bezeichne diesen halbtoten Mann als meinen Bekannten; daß er sich mit mir verlobt wähnte, tut nichts zur Sache. Immerhin geriet mir das zum willkommenen Anlaß, ihm ständig vorzuwerfen, sein Verhältnis mit mir hätte mich in dieses Haus gebracht. Es ist ja gut so, allein er will das ums Verrecken nicht wahrhaben.
Was weiß ich überhaupt von ihm. Bücher verfaßt er, regelrecht beeindruckend, eines liegt in meinem Nachtschrank. Doch fragen Sie nicht, worum es in seinen Versen geht. So genau konnte auch er das nie erklären. Vor einem Vierteljahr versuchte er, mich zu streicheln, es war schlimm, ich mußte die Pfleger um Hilfe rufen. Darauf ließ er sich wochenlang nicht blicken. Wie aus heiterem Himmel erschien er dann, gequält lächelnd, ein Dutzend roter Rosen in der Armbeuge, in einer Plastiktüte Tabak und Schokolade für mich. Zigaretten und Süßigkeiten brauche ich immer; aber nach wenigen Tagen vergaß ich seine Mitbringsel wie ihn selbst. Die Blumen verblühten. Dafür also mußte ich zwei geschlagene Stunden auf seine dreckigen Fingernägel starren, dieweil er von seinem Buchprojekt schwärmte. Stets brachte er die Rede auf irgendwelche wirren Pläne, die mich schon langweilten, sobald er den Mund auftat. Diesmal handelte es sich um die Leidensgeschichte eines Mannes, dessen Frau in der Irrenanstalt landete, so führte er in seiner weitschweifigen Manier aus. Läppisch. Ich fühle mich wohl, das Leiden dieses Provinzschriftstellers ist sicherlich ebenso gekünstelt wie sein Stil. Und er meinte, ich sollte seine Werke lesen. Jetzt hat er keine Meinung mehr. Da lobe ich "Die glühende Taiga" oder "Der Psychiater von Odessa". Deren Stoff schöpft aus dem Leben und bietet hier angenehme Ablenkung von hochtrabendem Geschwätz und Geschreibe.
Doch über jemanden, der vermutlich im Sterben liegt, schlecht zu sprechen, verbietet mein Glaube. Ob mein Bekannter schwimmen konnte, was weiß ich. Er hatte das behauptet. Ich habe es nie gesehen. Als er im vergangenen Winter, um mich nicht im Stich zu lassen, wie er beteuerte, sich für einige Wochen in die Aufnahmestation überweisen ließ, verweigerten ihm die Ärzte eine Berechtigungskarte zur Benutzung des Swimmingpools. Möglich, daß er während des Sommers häufig baden ging, was schert das mich. Ich verbrachte den Sommer hier. In aller Ruhe, sofern ich nicht manche Nachmittage hindurch seine Gegenwart und seine ungepflegten Fingernägel ertragen mußte.
Was weiß ich noch. Am Sonntag sagte ich nichts Böses. Küssen lassen wollte ich mich nicht. Hätte ich denn alle Zudringlichkeiten dieses Versagers über mich ergehen lassen sollen? Trotz schwerer Winterkleidung muß er mehrere hundert Meter den Kanal hinabgetrieben sein, fast bis vor den Eingang unseres Hauses. Wünsche oder befürchte ich seinen Tod, der mir letztlich Ruhe schenken würde? Den guten Ton zu wahren, erkundige ich mich regelmäßig hinsichtlich seines Befindens. Wahrscheinlich wird er an Kälte zugrunde gehen. |