Dirk Alt
Wenn wir Onkel Reinhard besuchten, kam es nach dem Mittagessen häufig vor, dass er mich und meinen jüngeren Bruder mit nach oben nahm, während der Rest der Familie satt und mit schweren Gliedern im Wohnzimmer zurückblieb, um den Verdauungstrunk einzunehmen. Onkel Reinhard führte uns Kinder in das Hobbyzimmer, das von seiner Modelleisenbahn beherrscht wurde, einer Anlage, die uns umso beeindruckender erschien, als wir noch klein waren: Mein Bruder musste auf einen Schemel steigen, um das hölzerne Plateau überschauen zu können, auf dem sich die Miniaturlandschaft erhob. Hinzu kam, dass die Raumbeleuchtung gedämpft war und das Modell dort im Schatten lag, wo unser Onkel die Wände zum Nebenraum durchbrochen hatte, sodass die Züge durch Tunnel ein- und ausfahren konnten. Dies spiegelte unserer kindlichen Phantasie vor, die Anlage müsse sich dahinter noch weiter, praktisch ins Unendliche ausdehnen.
Jedes Mal beobachteten wir gebannt, wie Onkel Reinhard sich feierlich die Reichsbahnmütze aufsetzte und sie tief in die Stirn zog, bevor er die geheimnisvollen Instrumente zu bedienen begann, die durch ein unter der Holzplatte wucherndes Gewirr von Drähten mit der Modelllandschaft verbunden waren. Mit wenigen Handgriffen erweckte er diese Welt zum Leben und setzte die Züge in Marsch, die zu unserem Erstaunen und unserer Freude auf dem unübersichtlich durch Berg und Tal, über Brücken und Höhenzüge gewundenen Gleissystem mitunter haarscharf aneinander vorüberfuhren, ohne jemals zu kollidieren. Deutlich erinnere ich noch die mit aller Art künstlicher Vegetation liebevoll ausgeschmückte Landschaft, die drei über die Anlage verteilten Provinzbahnhöfe und den großen Zentralbahnhof, der sich direkt vor unserer Nase befand und von einer Hundertschaft durcheinandereilender Reisender bevölkert wurde. Die detailreich bemalten Figuren hielten wir oft in Händen. Die größte Faszination ging jedoch von den Zügen aus, von der wuchtigen Dampflok, die eine lange Schlange kohlengefüllter Güterwaggons hinter sich herzog, und von dem grellroten, stromlinienförmig dahinsausenden Schnellzug. Wir beobachteten und staunten, die Instrumente bedienen durften wir nicht.
Eines Tages geschah es, dass wir – sei es aus eigenem Antrieb oder weil er uns dazu anstiftete – einige der Zinnfiguren, deren buntes Heer den Zentralbahnhof mit Geschäftigkeit erfüllte, in die offenen Holzwaggons eines Güterzuges beförderten, die Türen hinter ihnen schlossen und dem Zug nachwinkten, den Onkel Reinhard sogleich in Bewegung gesetzt hatte und durch den gähnenden Tunnel in der Wand unseren Blicken entschwinden ließ. Wenig später – wir hatten uns unterdessen mit dem eben einfahrenden Schnellzug beschäftigt – tauchte unser Güterzug durch die andere Tunnelöffnung wieder auf. Wir bemerkten ihn erst, als Onkel Reinhard ihn vor unseren Nasen anhalten ließ und wir die Passagiere aus den dunklen Verliesen befreien wollten, in die wir sie gesperrt hatten. Unsere Überraschung war groß, die Waggons leer vorzufinden, und verwandelte sich in drängende Neugierde, als wir das wissende Lächeln unseres Onkels bemerkten. Da er sich weigerte, den Trick zu erklären, blieb uns nichts anderes übrig, als das Ganze zu wiederholen und die wartenden Waggons mit den noch reichlich vorhandenen Fahrgästen zu füllen. Wir ließen den Zug nicht aus den Augen, bis er im Tunnel verschwunden war, dann hefteten sich unsere Blicke auf die durchbrochene Wand und den benachbarten Tunnel. Während wir die Rückkehr des Zuges erwarteten, meinte ich, von der anderen Seite der Wand Geräusche zu hören, die ich nicht zuordnen konnte. In jedem Fall war ich mir sicher, dass sie von Vorgängen herrührten, die Onkel Reinhard derweil mittels seiner Schalter und Knöpfe auslöste. Es dauerte nicht lange, bis sich unser Zug wieder blicken ließ und, von uns ungeduldig erwartet, seine Runde über Berg und Tal drehte, bevor er in den Zentralbahnhof einfuhr. Auch dieses Mal hatten sich die Passagiere, die wir ihm anvertraut hatten, in Luft aufgelöst. Ratlos sahen wir einander an, und dann den Onkel, dessen Augen unter der Schirmmütze ein verräterisches Wohlbehagen ausstrahlten. Er forderte uns auf, nicht nur, wie bei den ersten Malen, zwei, sondern sämtliche Waggons mit Fahrgästen zu befüllen. Wir kamen seinem Wunsch nach und stopften, da er uns weiter anspornte, die kleinen Menschlein hinein, wie es nur ging. Die Beine des Fahrkartenverkäufers ragten noch heraus, als sich der Zug wiederum in Marsch setzte und seiner Bestimmung entgegenfuhr. Und mich überkam – im Gegensatz zu meinem Bruder, der nach wie vor mit Vergnügen bei der Sache war – ein ungutes, beinahe ängstliches Gefühl, denn der Tunnel, in den der Zug eingetaucht war, schien meinen Blick aufsaugen, mich, je länger ich hinsah, in sich hineinziehen zu wollen. Es war die Dunkelheit, die aus ihm kroch und die, wie mir jetzt schien, in die eigentlich farbige und friedvolle Landschaft hineinquellen wollte. Alles schien dunkler geworden zu sein; von draußen fiel Dämmerlicht herein, das durch die vor dem Fenster ausgebreiteten Äste weiter gedämpft wurde. Auch Onkel Reinhards Gesicht war nur noch ein Schemen, ein Umriss unter der Mütze, die mit seinem Schädel verwachsen schien. Wieder rätselte ich über den Ursprung der Geräusche, die an mein Ohr drangen und von Metall, das über Metall schrammte, herrühren mochten. Wieder kehrte unser Zug unbemannt zurück. Ich empfand einen Widerwillen, mich weiter mit ihm zu beschäftigen, doch drängte uns Onkel Reinhard, was wir angefangen hatten, auch zu Ende zu bringen: Alle, alle müssten mit. Er war erst zufrieden, als nicht nur der Zentral-, sondern auch die Provinzbahnhöfe entvölkert waren, als wir selbst den Schafhirten von einer entlegenen Weide genommen und auf den Haufen seiner Schicksalsgenossen geworfen hatten. Erst dann, als der Zug die andere Seite befahren und, um seine Fracht erleichtert, in das nun menschenleere Land zurückgekehrt war, entließ uns Onkel Reinhard, um mit Mutter und Tante Pfannkuchen, Sahne und Sauerkirschen zu essen.
Ich weiß, dass mich dieser Nachmittag, der sich lebhaft in mein Gedächtnis eingeprägt hatte, zu verfolgen und zu ängstigen begann. In meinen kindlichen Träumen vermischten sich verzerrte Erinnerungen mit furchteinflößenden Phantasiebildern. Daher hatte ich wenig Interesse, erneut die Modelleisenbahn unseres Onkels zu besichtigen. Vor allem die Löcher in der Wand, die mir im Traum als blinde Fenster in ein unterirdisches Reich erschienen, erfüllten mich mit einer panischen Angst, die nach dem Aufwachen von einem nicht minder lebendigen Schuldgefühl abgelöst wurde. Ich sah den Briefträger, das Fräulein mit dem Sonnenschirm, den jungen Offizier und den Studiosus mit dem Fahrrad vor Augen, die ich alle auf die Fahrt ins Nichts geschickt hatte, und mich quälte die Gewissheit, Teil ihres Verderbens gewesen zu sein.
Als der nächste Besuch bei Onkel Reinhard bevorstand, erwartete ich voller Unruhe den Augenblick, in dem er uns einladen würde, gemeinsam mit der Modelleisenbahn zu spielen. Ich weiß noch, wie groß meine Erleichterung war, als wir den Raum betraten und ich von weitem das bunte Gewimmel auf dem Vorplatz des Bahnhofes ausmachen konnte, in den eine Hundertschaft lebensechter kleiner Figuren ein- und auszugehen schien. Als mein Bruder und ich schon unsere Plätze eingenommen und Onkel Reinhard sich die Mütze in die Stirn gezogen hatte, bemerkte ich jedoch etwas, das mich noch heute nachdenklich macht: Die Figuren, die die Landschaft bevölkerten, waren andere als die, die wir beim vorherigen Besuch in die Waggons verladen hatten. Zwar gab es auch unter ihnen Studenten und junge Mädchen in Sonntagskleidern, doch waren ihre Gesichter fremd und ihre Haltungen verändert. Einen Irrtum schließe ich aus, zu häufig hatte ich die ursprünglichen Bewohner der Miniaturlandschaft vor Augen gehabt, als dass ich mich hätte täuschen lassen. Mir war augenblicklich sehr unwohl, und mein Onkel ließ es zu, dass ich mich unter einem Vorwand entfernte. Von nun an schützte ich bei allen noch folgenden Besuchen Desinteresse vor und vermied es, auch nur ein einziges Mal noch meinen Fuß in das Hobbyzimmer zu setzen. |