Am Erker 67

 
Texte
Am Erker 67, Münster, Juni 2014
 

Doris Weininger
Lammfromm der ärgste Feind - oder: Jeden Tag kann das Blatt sich wenden

"Bullshit", schnaubte Sybille Winter. Eine so zupackende Ausdrucksweise kannten wir von ihr nicht. Sie brauche keine "Extra-Besuchsbehandlung". Sie sei ja nicht aus Zucker. Natürlich dürften wir danach fragen, ob die zahlreichen Chemotherapien auch mal Erfolg zeigten. Sybille schickte uns via Whatsapp Fotos mit Perücke nach der OP, montierten Leuchtdioden am Kopf mit Verband und mimisch kombinierten Masken. Unsentimental sollten wir Kollegin Sybille besuchen. So wünschte sie es sich. Ausgelassen, fröhlich, und jeder sollte seine Widerspenstigkeiten ausführen, sich ja nicht verfälschen. Das sei sowieso Bullshit, wenn jede Kollegin mit Trauerflor um die Wimpern käme. Das habe sie schon genug in Wartezimmern und deren nur mit Wehmut und uneingelösten Sehnsüchten dekoriertem Interieur.
Auf dem Gestaltungsmarkt der Krankenzimmer toben sich perverse Architekten aus, die Wände im Bioabfalltütenton streichen und mit elefantengrauen Bakelitstühlen letzte Geselligkeit vertreiben. An anderen Stellen betreibt man immer mehr Entgiftung, aber an diesen Orten wird komplex vergiftet, was die Fantasie hergibt. Während sich selbstverliebte amerikanische Broker wie Steven A. Cohen ihre Devise "So Abnormal Cool" auf Fleecepullis sticken lassen, dauert es nicht mehr lange, bis man auf tarnbeigen Schildern vor jedem Wartezimmer "So Fantastic Toxic" lesen wird.
Sybille Winter hatte es nun haushoch erwischt. Für sie wusste sich die Medizin keinen Rat mehr. Sie war eine führungsstarke Persönlichkeit, die in der Marketingabteilung visionäre Akzente setzte, der Sonne entgegenblickte, aber sich nie ins Licht stellte; eine angenehme Kollegin, deren einzige Extravaganz darin bestand, ferne Urlaubsreisen in weitgehend unerschlossene Gebiete zu lieben; eine Frau, deren Abenteuergeist es mit dem von Lady Mary Wortley Montagu oder der Rennfahrerin Clärenore Stinnes aufnehmen konnte.
Würde man Sybille mit einer mythologischen Figur vergleichen, wäre sie eine Galatea, eine schöne und kraftvolle Wagenlenkerin. Doch inzwischen hatte sich der Tumor so böse offensiv eingenistet, dass sogar ihre feinsilbrige Stimme zwischen einem krächzenden und einem dunkel raunenden Ton durch die Satzgelenke switchte und eine bitterböse Originalität hören ließ, da der Tod sich schon unausweichlich in den Mittelpunkt drängelte. Viele Jahre war sie Managerin eines exquisiten Möbelhauses gewesen. Ihr Fachbereich: Betten. Einmal gewann sie sogar einen renommierten Design Award, weil sie ein seidig matt glänzendes Einpersonenbett "Lotterleben" mit klimaoptimierten Lüftungskanälen entworfen hatte. Die Skandinavier rissen sich darum, und den Namen versuchte ihr ein Möbelkonzern für ein luxuriöses Millionärsbett abzukaufen, aber Sybille blieb standhaft. Sie habe ja auch eine besondere Matratze entwickelt, eine aus Memory Foam, das die Nasa eigentlich zur Schockabsorbierung von Astronautensesseln entwickelt hatte. In Sybilles Matratze sank man durch die Körperwärme tiefer und tiefer ein, was guten Schlaf versprach - für Langschläfer war das die Eingangsschleuse, um den Tag als toter Käfer im Bett zu verbummeln, und den um Schlaf Ringenden ersparte es die eine oder andere Diazepamtablette.
Sie liebte zwar immer noch Abenteuerreisen - mit Disziplin und innerem Kompass gelangte sie an die anvisierten Ziele und setzte sich über Skeptiker hinweg, denen zufolge es nichts Neues mehr zu erkunden gebe -, aber letztens in Oman war sie erstmals mit einem Reiseveranstalter unterwegs gewesen. Einer Single-Expedition fühlte sie sich aufgrund lang ignorierter Schwächen nicht mehr gewachsen. Sie wollte es einfach mal relaxed angehen, und gegen ein tägliches Vollbad und ethnologisch versierte Reiseführer hatte sie auch nichts einzuwenden. Dann geschah es, dass sich Sybille an einem Maulbeerfeigenbaum verliebte: in einen Mitreisenden, der doppelt so alt war wie sie, in einer Seniorenkommune lebte und eine kleine Druckerei betrieb, mit der er marxistische Kampfaufrufe unter die Einwohner am Genfer See streute. An einem Tag lag sie wie ein erlegtes Reh im Bus, es war ihr zu heiß, und noch dazu hatte sie sich abends am Buffet sehr reichlich und ungezwungen bedient. Ihr war übel, die Hitze knallte auf den Kopf, und vor ihren Augen verschwamm die Gebirgslandschaft in sepiafarbenem Schlamm. Die Hand hielt sie als eine Lucretia wie ein tugendhaft gezücktes Schwert vor ihr Herz, um das Dröhnen im Kopf zu beschwichtigen.
Der über Neunzigjährige, von einer grausam beneidenswerten Rüstigkeit, scharwenzelte mit Obststückchen und Bachblütentropfen um Sybille herum, bis sie wieder Lebensgeister spürte. Abends plante die Reisegruppe eine Schifffahrt. Der Junggebliebene tanzte so ausdauernd mit ihr, dass sie auf dem schwankenden Boden unter ihren Füßen glaubte, in den Himmel zu schweben.
Die beiden wurden ein Paar - mit einer Erkrankung, die sich nicht bändigen ließ. Heilung immer aussichtsloser. Austherapiert. This is the end, my beautiful friend. Palliativstation will sie nicht. Wenn schon sterben, dann wie früher. Zu Hause. Wir machten uns nichts vor. Es brodelte und raunte aus allen Ecken, dass Sybille nicht mehr ins Unternehmen zurückkomme. Sie selbst glaubte nach jeder Operation, der Tumor sei nun komplett entfernt, aber kaum klang die Narkose ab, marschierten wieder böse Zellen in ihr Gewebe ein. Sybille war nun daheim, und ihr neuer Mann, ja, ihr Geliebter öffnete uns mit champagnerfarbenem Jackett und Basthütchen - ein Anblick, wie aus der Liebermannschen Idylle -, bereit für ein Stelldichein im Rosengärtchen am Wannsee. Sybilles Geliebter bot uns zur Begrüßung ein Likörchen an und schob uns zur Imbissparade, wo Kaffee, erlesenes Gebäck und stattliche Schnäpse auf uns warteten. Wir hatten uns den worst case ausgemalt: Sybille mit einem Tross an Pflegerinnen, die ihr die Schnabeltasse reichen, und ihr vormalig so frischer, aufmunternder Blick klebt apathisch stundenlang auf einem Punkt - wie beim Augenarzt, wenn man den Blick nach oben richten soll, während man Tropfen verabreicht bekommt. Doch Sybille, eigentlich gemartert von unerträglichen Kopf- und Rückenschmerzen, dazu noch durch die eingeschränkte Koordination gehandicapt, begrüßte uns mit einem quellenden Lachen, das sich andere teuer in Wellness-Camps erkaufen müssen. Kichernd hielt sie ihr Likörgläschen hoch und zündete sich eine Zigarette an. "Zwanzig Jahre hab ich's nicht vermisst. Aber jetzt? Wann, wenn nicht jetzt?" Im Hintergrund schallten die markanten AC/DC-Glocken von "Hells Bells". Es fiel ihr zwar schwer, jeden Muskel im Kampf gegen die Schwerkraft zu stählen, aber sie saß trotz der Mühen aufrecht auf ihrem Komfortsofa und ermunterte uns, nicht traurig zu sein, denn sie bekomme die besten Medikamente und ihr Liebster schwirre wie eine Motten-Armada um sie herum. Sie ärgere sich, wenn überhaupt, nur darüber, viel zu lange gearbeitet und die Signale ihres gereizten Körpers, das Maß an Anstrengung sei längst voll, ignoriert zu haben. Hätte sie früher geahnt, wie wohl es tut, länger zu schlafen, hätte sie ihre Seele sicher für ein bisschen Müßiggang verwettet. Ihr allzeit Rüstiger, er hieß Heinrich, meinte, das sei wohl unvorstellbar gewesen, da sie nur mit Arbeit und kreativem Output in ihrem Element gewesen sei. "Billchen, du hast dich nicht umsonst scheiden lassen." Die Sonne blitzte und setzte Billchen ein Krönchen auf. Sybille saß auf dem Sofa wie auf einem Podest, die Luft mittlerweile salamischeibendick, weil sich alle an vergangene Zeiten mit Zigaretten und köstlichen Rauschattacken erinnerten. Ergänzend lagen einige Morphiumpflaster wie in einer kleinen Drogenhöhle herum. An der Wand hing Paul Klees "Mephisto als Pallas" - ein feuerroter Irokesenkamm, der sich mit der Kriegsgöttin Athene verbindet und den kaum verhohlenen Verunglimpfungen im Leben mit einem neuen Authentizitätsthrill kraftvoll entgegentritt.
Über Sybille wussten wir eigentlich nur, dass sie eine verantwortungsvolle und angenehme Kollegin war und sich kaum je Ruhe gönnte. Ihrer Natur war Ruhe fremd, sie blieb ständig in Bewegung. Durch die Rauchschichten war trotzdem der Nebenraum erkennbar. Dort standen unzählige Modelle für futuristisches Interieur, nicht im Fokus, aber ausreichend exponiert, sodass man ein ungewöhnliches Gesamtwerk erkannte. Ihr Liebster Heinrich meinte, ihre Entwürfe und Modelle überwänden Schwerkraft und Statik und die Materialien darin würden nicht herkömmlich eingesetzt. Ein dreibeiniges Bett als Reminiszenz an den berühmten Jacobsenschen Ameisenstuhl und Konstruktionen wie Archipenko-Skulpturen, die auch als Wohnraum dienten - so etwas gestaltete Sybille.
Unermüdlich schuf sie trotz ihrer unerbittlichen Malaise diese Traumlandschaften. Unser neugieriges Nachfragen wischte sie aber gleich weg, während sie sich die nächste Zigarette anzündete, und lästerte über einen Vorfall in der Nachbarschaft. Frühmorgens keuchte sie stets aufgrund der Übelkeit und wurde von exzessiven Hustenanfällen geschüttelt. Der Husten knallte eruptiv wie ein Sektkorken aus ihr heraus. Sie spürte nur kurz, dass etwas ihre Nase kitzelte, als würden Insekten die Stirnhöhlen rauf und runter krabbeln und sich dabei zugleich wie rauschhaft überdrehte Faschingsartikel voranschrauben. Was Oskar Matzerath mit seiner klirrenden Stimme anrichten konnte, schaffte Sybille mit ihren Hustenausbrüchen: Die Gläser vibrierten, und in der Luft hing noch ein Nachglühen, während man sich schon auf eine weitere Salve gefasst machte.
Jedenfalls hielt sich der Husten nicht an die Ruhezeiten im Haus, und wenn Sybille in der Nacht aufschreckte, donnerte diese physiologische Urgewalt wie ein von der Nockenwelle geschredderter V8-Motor, der sich gar nicht mit Stottern wegen einer Fehlzündung aufhält, sondern nur noch ohrenbetäubend faucht. Ihr Nachbar, ein alter Tyrann, der sich mit seiner schwerhörigen Frau lautstark aufs Vulgärste beschimpfte und für genug Aufruhr sorgte, galt im Haus nur als der Harmlose und Gestörte, lästig zwar, aber man beschwichtigte sich damit, dass die beiden bald in einer Seniorenresidenz weiterstreiten würden. Doch anscheinend hatte die ständig angegiftete Frau irgendwann genug, und bevor sie zu einer Schirach-Mandantin wurde, ergriff sie rechtzeitig die Flucht und quartierte sich bei ihrer Tochter ein. Dem streitsüchtigen Greis fehlte natürlich seine compañera, denn es ist ja nutzlos, wenn man nur die Wand anbellt und niemand da ist, der bei dem Getöse ängstlich zusammenzuckt. So kam es ihm wohl wie gerufen, dass Sybille in ihrer schweren Zeit von ekstatischen Hustenanfällen geplagt wurde. Rabiat hämmerte er an die Tür, während die Arme um Atem rang. Durch ihr Schweigen fühlte er sich noch mehr herausgefordert, lauerte ihr im Treppenhaus auf und stellte sie zur Rede, dass sie doch gefälligst zur Nachtruhe ihren Raucherhusten beherrschen solle. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah, ignorierte seine Beschwerden und schleppte sich zur nächsten Chemotherapie - bis ihr Geliebter Wind von dem störungsanfälligen Nachbarn bekam und bei dessen erstem Klopfen einen Golfschläger in die Hand nahm, die Tür öffnete und dem fuchsteufelsrot gegarten Nachbarn, der mit einem vergleichsweise kümmerlichen Besenstiel herumfuchtelte, wortlos mit seinem Eisen die Luft hautnah an den Ohren durchschnitt. Heinrich war nie der mutigste Zeitgenosse gewesen, aber als er den wie von der Tarantel gestochenen Kerl mit sengendem Blick vor sich sah, trat er noch etwas näher heran, legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und durchdrang ihn mit finsterem Gegenblick. Just im selben Moment machte sich der Schüler aus dem Obergeschoss für sein anstehendes Bewerbungsgespräch mit der Hardcore-Punkband Dropkick Murphys warm, und im Treppenhaus dröhnte "The boys are back, The boys are back, The boys are back, And they're looking for trouble". Manchmal reicht ja nonverbale Kommunikation.
Die nächste Stunde hörte man aus der Wohnung nebenan, dass anscheinend Spiegel, Gläser und Flaschen kurz und klein geschlagen wurden. Seit diesem von Heinrich korrigierten Zwischenfall war der Nachbar mucksmäuschenstill. Sybille meinte, als wir uns verstohlen zu den samtausgeschlagenen Vitrinen mit den von ihr konstruierten Bettenmodellen schlichen, dass ihre Tage durch Chemo und unsägliche Behandlungen getaktet seien. Vor Jahren fing sie an, täglich kleine Bettenmodelle zu falzen und zu gipsen und entwarf eine kleine Origami-Kollektion. So konnte sie die Zeit vergessen und sich aus der Erdenschwere ihrer malträtierten Existenz davonstehlen.
Paul Klees Mephisto als helmtragende Athene ist womöglich die Triebfeder für Sybilles Weiterleben. Denn der Schweizer Maler hatte auch bis zum Ende noch täglich an seinen Bildern gearbeitet, und als er 1940 zur Jahresmitte qualvoll an seiner Sklerodermie starb, hatte er bereits sein Jahrespensum an Zeichnungen erfüllt.Schwer beladen beide, gegensätzlich die Lebenswege.
Dafür dass wir mit einem bedrückenden, düster gewebten Krankenbesuch gerechnet hatten, erlebten wir viel zu fröhliche Stunden. Wüssten wir es nicht, wären wir nie auf die Idee gekommen, dass Sybilles körperliches Inventar dahinschrumpfte. Als uns Heinrich freundlich, aber bestimmt mit einer Wegzehrung von Häppchen und Weinfläschchen zur Tür hinauskomplimentierte, meinte sie noch, sie könne es gar nicht glauben, dass sie jetzt endlich so lebe, wie sie wolle. Sie übe den Tanz auf einer Rasierklinge und wisse, wie gefährlich das sei. Aber jetzt - immer noch fassungslos starren wir darauf, wie unbekümmert sie an der Zigarette zog - könne sie endlich unbeschwert leben, so unbeschwert wie nie. Natürlich sei ihr Leben jetzt noch ungesünder. Aber wenigstens könne sie nun sagen, dass sie ihre Biografie eigenständig konzipiere.