Emanuel Maeß
Seit ich denken kann, und wohl auch ein
paar Jahre davor, haben wir unsere Sommer immer am Meer
verbracht. Irgendwann Ende Juni machten wir uns dann mitten
in der Nacht mit reichlich Koffern, Proviant, warmen Decken
und dem RFT Sternrecorder, der in der Lage war, das Motorengeräusch
unseres Wagens mit Pink Floyd zu übertönen,
auf den Weg nach Usedom. Im Universum meines kleinen Landes
kreiste unser Trabant jedes Jahr um dieselbe Zeit auf einer
ellipsenförmigen Bahn um ein Berliner Zentralgestirn,
deren Scheitelpunkte, das Werratal im äußersten
Südwesten und die Küste der alten Kaiserbäder
im äußersten Nordosten, damals noch etwa eine
halbe Tagesreise auseinanderlagen. Berlin, Leipzig oder
Dresden blieben mir zu Kinderzeiten völlig fremde
Planeten, die nur der Gravitation wegen von Bedeutung waren,
mit der sie Umlaufautobahnen um sich herumlegten. Das Land,
das wir auf langen Geraden passierten, kannte ich kaum,
und man sah offenbar keinen Grund, mich näher mit
ihm vertraut zu machen. Als ich gegen fünf
oder sechs auf der Rückbank des Wagens erwachte, durchzogen
wir schon Gegenden, die sich anders als meine thüringische
Heimat flach bis zum Horizont ausdehnten; er rückte
hier in eine solche Ferne, dass die Sonne, ohne die rechten
Erhebungen für einen ihr gemäßen Auftritt zu
finden, weite Wege zurücklegen musste und dann hinter
Feldern von ungeheuren Dimensionen aufdampfte, die offenbar
irgendwelche Titanen bestellten; über Stunden rauschten
wir am selben Weizenfeld vorbei, das allem Anschein nach
einem einzelnen Großbauern gehörte und kein
Ende nahm. Mich beschäftigte
während der ganzen Fahrt, des überlangen und
ereignislosen Introitus Gaudete unserer sich über
die Jahre herausgebildeten Meerfahrts-Liturgie jedoch nur
die Frage, wann wir endlich die See erblicken würden.
Sobald wir von der Autobahn auf die von Alleen gesäumten
Kopfsteinpflaster abfuhren und rings wieder Kornblumen
und wilder Mohn die Monokulturen unterwanderten, stieß unsere
Knatterpappe, deren Klangverhalten mein Vater immer mit
einiger Skepsis verfolgte, ihre heiseren und bangen Kyrien
aus; dann endlich das Gloria des ersten Wiedersehens, wenn
von einer der wenigen Erhebungen auf dem Festland der bläulich
blitzende Streifen am Horizont in den Blick geriet, vor
dem wir uns bald, seinem erhabenen Anblick gemäß,
hinabfahrend verneigten.
Meinem Vater war von einer staatlichen
Planungsbehörde eine Stelle als Arzt in einer Betriebsferienanlage
zugewiesen worden, zu der wir jeden Sommer zurückkehrten,
einem heruntergekommenen Waldhotel 'Strandläufer',
das der Staat den Arbeitern des Meininger Lokomotivenwerks
den Sommer über für wenig Geld überließ.
Seine Aufgaben dort hielten sich im Rahmen; er stellte
die medizinische Versorgung der Leute sicher, gab darauf
acht, dass man die Hygiene-Vorschriften einhielt, pflegte
Sonnenbrände
und Wespenstiche, widmete sich Flöhen, Fußpilz,
Würmern und Bauchschmerzen, lag aber meistens mit
Mutter schon früh am Strand, ging ausgiebig baden
und machte lange Waldläufe. Wir kamen während
dieser Wochen in ein paar schlichten Hütten und Bungalows
um das Hotel unter, das auf seine alten Tage ein wenig
verwirrt schien und von dem keiner recht wusste, wie es
in diese Waldsenke im Rücken der Steilküste und
zwischen all die Buchen geraten war, die hier seit Anbeginn
der Zeit in gotische Höhen emporstrebten und mit dem
Fächergewölbe ihrer smaragdenen Blätterkronen
von Harzduft erfüllte
Hallen errichtet hatten. Grau, gebückt und baufällig
stand der 'Strandläufer' nun unter zwei Himmeln, einem
blauen, der bei leichtem Seewind tanzende Stroboskopeffekte
auf den Waldboden warf, und einem blätternen, aus
dem es leuchtend grün über Äste und Stämme
auf ihn herabrann. Daneben ein größeres Wirtschaftsgebäude,
in dessen Schatten sich der Fahnenmast mit dem gehissten
Jungpionieremblem ein wenig seltsam ausnahm; eine brennende
Fackel mit dem Aufruf Seid bereit! (doch bereit
wofür?). Lange bevor
man nach der Wende vom "Ende der Geschichte" sprach,
hatte die Ewigkeit des Raums hier längst von der Zeit
Besitz ergriffen; in jenen zehn Jahren, in denen wir unter
den Bäumen unterkamen, veränderte sich nicht
das Geringste; derselbe staubige Sportplatz, die schwarzen
Fußsohlen,
dasselbe Ungeziefer, die Wildschweine, die abends bis an
den Rand der Anlage kamen, um sich an den Küchenabfällen
gütlich zu tun, die kalten Gemeinschaftsduschen, die
Bottiche mit Desinfektionsmitteln vor den verdreckten Toilettenanlagen,
deren Unmöglichkeit meinem Vater jedes Mal neues Kopfzerbrechen
machte, dasselbe Essen, mehr oder weniger dieselben Leute,
der Duft von See, Moos und Morcheln, das Grün, der
Wind, der Weg des Lichts, der gleiche Sog, der alles zur
See hinauszog; die Unveränderlichkeit der Gegend brachte
es mit sich, dass ich immer all das wiederfand, wonach
ich mich den Rest des Jahres gesehnt hatte. Am schnellsten
gelangte man zum Meer, wenn man die Anlage auf einem Waldpfad
durchs Unterholz und wilde Himbeeren verließ, der
bald zu einem natürlichen Säulengang anwuchs
und nach oben hin einem offenen Stück Himmel entgegenstrebte,
dem wir gleich nach unserer Ankunft lichtangebunden und
voller Ungeduld emporfolgten.
Dem Anblick der See vom Langen Berg aus
konnte man zunächst kaum standhalten; nachdem sie,
die weit unter mir lag, für einen Moment über mich
hinweggegangen war und noch ehe ich etwas denken oder sagen
oder über
das lange hölzerne Treppengestell zum Strand hinabgehen
konnte, kamen mir von unten schon ihre Pagen entgegen,
die mich in zeitloser Gastlichkeit um jegliches Reisegepäck
und Gewicht erleichterten. Oft stand ich dann noch eine
Weile schwerelos und ließ mir zwischen Seggen und
Strandhafer die Flut durchs Gemüt ziehen; seltsam,
wie sie sich nicht an meinen Dämmen brach, sondern
ungehindert in alle inneren Kammern floss und sie so lange
ausfüllte,
bis ein paar Gedankenvögel, die sich für eine
Weile auf dem Brunnenrand meines Rest-Ichs niedergelassen
hatten, laut aufflogen, um nicht nass zu werden, sich wie
Blicke lösten und dann an der Steilküste hinab über
Reste von Kiefern, abgegangene Büsche, Wurzeln und
hellgelben Ton segelten und sich weiter unten von Land-
und Seebrisen auffangen und über ein paar Strandkörbe
und Nacktbadegäste zum
Meer tragen ließen, wo sie bald in der Brandung verlorengingen.
Gegen Mittag beherrschte die See sämtliche Partituren,
lief allen Gesichtskreisen über die Ränder und
wälzte
Wind- und Wassermassen in solch unbeirrbarer Regsamkeit
um, dass in alle Erhabenheit fast etwas Bodenständiges
kam; sie glich um diese Tageszeit sogar ein wenig meiner
Großmutter, die mit ihren Beeten im Pfarrgarten im
Großen und Ganzen dasselbe tat. Hinter fernen Dunstgewinden
zogen Tanker und Traumschiffe des Wegs; ich äugte
noch einmal ins Blaue - war sie's wirklich? -, drehte ab
und würde später allein zu ihr zurückkehren.
Für den Höhepunkt und Abschluss jedes Sommers, eine
sonderbare Eigenart des Ostens, die sich nur schwer erklären
lässt,
vergaßen im 'Strandläufer' alle, was sie waren,
und das ganze Personal, Betriebsleiter, Bademeister, Parteisekretäre,
mein Vater, der Koch, der in vielem an eine Gelbbauchunke
erinnerte, aber wie man erzählte, mit seinem Lied
ganze Scharen von Frauen übermannte, alle bemalten
sich mit grüner oder schwarzer Farbe, kleideten sich
mit muschelbesetzten Netzhemden und fürchterlichen
Masken; einer setzte sich, ich weiß nicht wie, ein
Ersatzauge ein, das seiner Starre wegen sehr bedrohlich
wirkte; andere zogen als schwarze Sensenmänner, sehnige
Häscher, barbusige, schuppige und
halbverweste Seemannsbräute oder Trommler los. Der
ganze Tross entfernte sich dann heimlich, stieg am Strand
in ein paar Boote, auf denen man ein wenig aufs Meer hinausfuhr,
um für den Rest, die Kinder und zugeeilten Strandurlauber
den Eindruck erwecken zu können, man nähere sich
von fernen Grotten. Auch meine Freunde verkleideten und
bemalten sich, schminkten ihre Gesichter, umgürteten
sich mit Flechten, Rohr und Buchenreisig, steckten sich
Heckenrosen ins Haar oder traten als zerfetzte Piraten
auf. Unter einigem Getrommel und Gerassel tanzten sie
später an den Strand, wo ihnen
Neptun mit Krone und Dreizack schon entgegenfuhr, den Wassern
entstieg und von den Getreuen auf seinen dürftigen
Ersatzthron getragen wurde. Nachdem er dort die Namen derjenigen
ausgerufen hatte, denen die Ehre zuteil wurde, von ihm
getauft zu werden, rannten die Betroffenen davon, wurden
aber bald von den Häschern wieder eingefangen, je
nach Gegenwehr mehrere Bahnen im großen Kreis herumgeschleift
und in den heißen Sand vor Neptuns Thron geworfen.
Der sprach ein paar salbungsvolle Worte, dann wurden dem
Täufling für gewöhnlich faule Eier auf dem
Kopf zerschlagen, man begoss ihn mit großen Suppenkellen
einer aus Essig, Senf und Mehl zusammengerührten Brühe,
die er vorher meist zu kosten hatte, ließ ihn die
Füße
des Gottes küssen, gab ihm seinen neuen Namen und
warf ihn ins Meer, dass er gereinigt und erhoben daraus
zurückkehre.
Nach den Taufen aber spielten sich oft seltsame Szenen
ab; Neptun und sein Gefolge veitstanzten, angefeuert
von mehr und mehr Wermut, Klappern und Rasseln, von dannen,
erschreckten mit ihren trunkenen Gesängen noch eine
Weile vorbeiziehende Urlauber und erreichten Zustände
solch tiefer Einsicht in die Welt, dass mein Vater manchen
davon abhalten musste, ins Meer zu gehen und sich in die
Fluten zu stürzen. Nach einer halben Stunde klang
das wilde Treiben ab, es kehrte wieder Ruhe ein, und alle
lagen splitternackt mit Resten von Bemalung, Eier- und
Brandungsschaum im Bart im Sand und ruhten erschöpft
aus.
Passanten mochten den turbulenten Seeszenen mit Ratlosigkeit
und amüsierter Neugierde begegnen, ließ sich hier
doch manch kulturmorphologische Einsicht in die Seelenhaushalte
eingeschlossener Gesellschaften gewinnen; mir war dies alles
völlig gleich. In meiner lächerlichen Montur aus
grünem
Krepp, Seetang und Zapfen-Gebinden bedrängten mich Dinge,
die mir seltsamer vorkommen mussten als der kostümierte
Ferienklamauk pflichtvergessener Lokomotivbauer, die hier
ozeanisch-antike Taufriten an Ostseestränden nachstellten.
Durch die weißen Bergstraßen-Villen hindurch
blaute es mir wunderweit in Kobalttönen; nur an einem
Binnenmeer sind die Geräusche zur Mittagszeit so gedämpft,
dass man in diese sanften Fönstunden einlaufen konnte
wie in seine stillste Bucht. Pan hätte hier die Flöte
ausgepackt, wäre es eine Zeit der Hirten und nicht der
Arbeiter und Bauern gewesen, die in den bröckelnden
Strandvillen über
zwei Urlaubswochen ihrem erfrischenden Badekommunismus frönten.
Der große Mittag zog mich durch den Wind, durch Stunden
abstandslosen Staunens, Strömungen und Unterströmungen
der Straßen und Promenaden, die voller Musik und Buden
waren und doch nur gaukelnder Vordergrund für das getäfelte
Meer. Ich verlor mich in den Distanzen der alten Bäder,
zwischen Seebrücken, lausigen Kurorchestern und Scharen
von Möwen, blieb manchmal, bis die Badegäste am
Nachmittag abzogen, wenn die Sonne nachließ und hinter
dem Wald verschwand, der sich in Ufernähe mit seinen
zerzausten und fast völlig entlaubten Baumbücklingen
vor der See krümmte.
Die hatte sich inzwischen geglättet und führte
für ein
paar letzte Schwärmer und andächtige Anhänger
ihre gemurmelten Litaneien auf, in denen dann, soweit ich
mitbekam, viel von ewiger Wiederkunft die Rede war.
Selbst wenn ich mich dann schon beeilen musste, nach Hause
zu kommen - denn man vergaß hier nicht nur die
Zeit, sondern unterschätzte auch den Weg, da sich die
Gegenden am Strand sehr ähnelten und man sein Vorankommen
nur an den vorbeiziehenden größeren Rundfelsen
erahnen konnte, die wie Findlinge auf den Sandbänken
saßen -, hing
ich mich auf mancher Mole in das auf- und niedergleitende
Gefunkel ein und wurde dort ganz Lichterlust. Und während
das Wasser noch über meine Zehen ging, drehte ich mit
den Möwen ein paar letzte Runden über abendlichen
Großgewogen.
Das Verhältnis der Elemente lag einem dort oben um einiges
klarer vor Augen; zwar war eine Weile vergangen, seit der
Alte die Wasser voneinander getrennt und das Himmelsgewölbe
dazwischengeschoben hatte, noch immer aber wiesen Naturell
und Habitus der beiden auf gewisse Verwandtschaftsverhältnisse
hin, selbst wenn Vater Äther ab und zu ein wenig reserviert
und erhaben tat und auf die leicht borderline-gestörte
Seetochter herabzublicken schien. So lange ich das Geplauder
der beiden auch verfolgte, um herauszuhorchen, ob sie sich
schätzten,
für
den Abend verabredeten, über Licht und Luft miteinander
korrespondierten: Bald musste ich erkennen, dass sie offenbar
Besseres im Sinn hatten, als sich auf meinen klappernden
Satzgerüsten niederzulassen. Stattdessen verkehrten
sie in einem fremden, seltsam fesselnden Idiom, das mich
dem tosenden Tremendum mit einer Reihe hilfloser Gestikulationen
antworten ließ, die dann ebenfalls keiner rechten Syntax
gehorchten, wohl aber die Frage umkreisten, was es zu bedeuten
hatte, dass die beiden Unendlichkeiten an dieser Stelle so
vielsagend aufeinandertrafen und nirgends sonst; was es mit
dem Horizont auf sich hatte, der diese unmögliche Geometrie
zusammenheftete und, obgleich er deutlicher nicht hätte
vor mir liegen können, doch unerreichbar war und vor
jeglichem Zugriff zurückwich (oder hätte man nicht
doch, Mut und Jesuslatschen vorausgesetzt, den beglänzten
Wasserweg sonnezu hinaufeilen können, das Haupt in Horizontgewölk
zu halten)? Was immer mir durch den Sinn ging: Ich konnte
es in keine Sprache fassen, über die die See nicht salzig
hinweggegangen wäre, um sie so lange auszuwaschen,
bis nur noch harte runde Begriffe, Hühnergötter
und Donnerkeile, von ihr übrigblieben.
Am Ende meiner Spaziergänge hatte ich dann die Taschen
voller Muscheln und Gedanken, die dank der See gereinigt
und von allen Schalen befreit worden waren und die ich nun
zu einer endlosen Kette aneinanderreihen und nach Hause mitnehmen
konnte, wo sie - ach! - von Schlaf und Traum
wieder aufgetrennt wurden und ihre Glieder sich lösten,
zu Boden gingen und in alle Richtungen der Nacht davonsprangen
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