Am Erker 60

 
Texte
Am Erker 60, Münster, Dezember 2010
 

Jens Wonneberger
Mabusch

Nach Mabusch befragt, würden die meisten nur mit der Schulter zucken. Ein ruhiger Mensch, ruhig und bescheiden, einer, der nicht auffällt. Einige halten Mabusch für verschlossen und nennen ihn einen komischen Kauz. Seinen Kollegen im Depot des Museums gilt er als zuverlässig. Sie glauben, ihm ansehen zu können, dass er ihres Zuspruchs bedarf, und loben seine Arbeit. Ihr Lob macht ihn unsicher. Manchmal fragen sie nach seiner Malerei.
Mabusch hat es nicht gern, wenn man ihn ausfragt.
Eine würde sagen, Mabusch, das ist mein Mann. Er trinkt zu viel, denkt sie, doch sagen würde sie das nie. Sie spricht von einer guten Ehe und dass die Stelle im Museum ein Glück für ihn sei.
Die Kinder sind erwachsen und längst aus dem Haus, manchmal merkt Mabusch, dass er ihre Achtung braucht, doch wenn sie sich für ihn interessieren, wird er misstrauisch und glaubt ihnen nicht.
Vor mehr als dreißig Jahren hieß es an der Akademie, Mabusch werde seinen Weg machen, er habe Talent. Man lobte die Kühnheit seines Strichs und das sichere Gefühl für farbliche Nuancen. Manchmal glaubt auch Mabusch, dass aus ihm etwas hätte werden können. Seine letzte Ausstellung liegt zwei Jahrzehnte zurück. Wenn er heute in einer Galerie vor den Bildern seiner ehemaligen Kommilitonen steht, ist er überzeugt, nicht schlechter zu sein, doch er ist sicher, dass sie vom Gegenteil überzeugt sind. Er hat das Gefühl, das Scheitern müsse ihm mit den Jahren anzusehen sein, und hält ihre Freundlichkeit für Nachsicht.
Meist schweigt Mabusch. Über Kunst, denkt er, ist schon viel zu viel gesprochen worden. Die alten Meister, sagt er manchmal und verstummt.
Mabusch ist altmodisch und nennt das in diesen Zeiten zwingend und konsequent. Zuweilen genügt es ihm, auf einer Bank zu sitzen und der Bewegung der Wolken zuzusehen oder dem Spiel des Winds im Geäst der Bäume. Wozu malen, fragt er sich dann und wird Stunden später von einer seltsamen Unruhe ergriffen.
Er schläft neuerdings schlecht, aber Schlaftabletten verachtet er.
Manchmal träumt er von spätem Ruhm, dann wieder ist er froh, dass sein Name nicht mehr genannt wird und er selbst unter Kollegen zunehmend unerkannt bleibt.
Einmal hat er im Wartezimmer seines Zahnarzts die Grafiken eines Bekannten gesehen, gute Arbeiten, aber er hat gedacht, dass er hier nicht hängen wollte. Er hätte das dem Arzt gern gesagt, doch der hat ihn nicht nach seinen Bildern gefragt, sondern nur, ob er eine Betäubungsspritze wolle. Damals hat er Nein gesagt, heute würde er sich vielleicht anders entscheiden.
Vor Jahren kamen gelegentlich Leute, die sich seiner Freundschaft sicher waren, nur weil sie einmal mit ihm zur Schule gegangen waren oder zufällig in der gleichen Straße gewohnt hatten, sie nannten ihn einen Mann vom Fach. Er hasste sie und malte dann doch die Bühnendekoration für den Karnevalsklub oder illustrierte die Hochzeitszeitungen ihrer Kinder. Sie waren begeistert und zählten den Lohn mit übertriebener Langsamkeit in seine zitternden Finger. Heute findet er es schade, dass solche Zeitungen aus der Mode gekommen sind.
Er weiß, dass er zu viel trinkt, doch gerade das Wissen, dass er es noch weiß, beruhigt ihn. Er nimmt sich vor, zu besseren Sorten zu wechseln.
Immer öfter überkommt ihn eine Wut auf alles, vor allem auf sich selbst. Wenn möglich, sieht er sich dann im Fernsehen Fußballspiele an. Er starrt auf den Bildschirm, bis der Schlusspfiff ihn aufschreckt. Am nächsten Tag sucht er in der Zeitung nach dem Ergebnis wie nach der Vergewisserung seiner Existenz und ist jedes Mal überrascht. Aber eigentlich interessiert er sich nicht für Sport.
Ich hänge mich auf, hat er mehr als einmal gedacht, doch dann schien ihm sein Leben jedes Mal zu unbedeutend für so einen spektakulären Abgang. Außerdem liebt er den Schokoladenpudding, den seine Frau ihm regelmäßig kocht.
Seine Frau akzeptiert es, wenn er sich in sein Arbeitszimmer einschließt, und nennt das die Freiheit, die man einem Mann wie Mabusch gewähren muss. Es gibt Hobbys, die schlimmer sind, denkt sie. In den Kunstbüchern und Katalogen, die sie ihm zu jedem Geburtstag schenkt, weil sie findet, es sei das Passende für ihn, sieht er einen stummen Vorwurf. Er findet, sie habe etwas Besseres verdient als ihn.
Todesanzeigen liest er jetzt mit wachsendem Interesse, die Lügen in den Nachrufen lassen ihn ein wenig hoffen.
In seinem Kalender streicht er die vergangenen Tage ab und hat dabei ein Gefühl von Erleichterung. Er wartet auf den Tag, da alles keine Rolle mehr spielt. In drei Jahren wird Mabusch Rentner sein, dann hofft er, mehr Zeit zu haben, aber er weiß noch nicht wofür.
Nach Mabusch befragt, würden die meisten nur mit den Schultern zucken, aber wer sollte schon nach Mabusch fragen?