Texte
Am Erker 56, Münster, Dezember 2008
 

Sabine Neumann
Höhenflüge

An einem Rauchertisch sitzen drei Männer. Sie streifen die Asche ihrer Zigarren am Aschenbecher ab und lassen dünne Rauchfäden in die Luft steigen.
Sie sind mit ihrer Zeitungslektüre fertig und beginnen ihre Gedanken auszutauschen.
Der eine ist Vertreter eines weltberühmten Haarwiederherstellers, des zuverlässigsten und sicherlich unschädlichsten Mittels, um grauen oder weißen Haaren ihre natürliche Farbe wiederzugeben und ihnen zugleich frische Lebenskraft, erneuertes Wachstum und große Schönheit zu verleihen. Seit 40 Jahren in 702 Ländern der ganzen Welt bekannt und bewährt.
Er hat jetzt eine große Reise genau geplant. Er will den Nordpol mit dem Luftballon erreichen. Dazu will er drei Ballons mittels eines hölzernen Rahmenwerks zusammenkuppeln, die außer sechs Mann Besatzung 60 Zentner an Schlitten, Bootsschlitten, Geräte, Lebensmittel, Zelte, komprimiertes Gas, Ballast und Hunde zum Ziehen der Schlitten aufnehmen sollen. Das Rahmenwerk wird mit Stricken versehen, um die Verbindung von Ballon zu Ballon zu ermöglichen. Durch Ballastsäcke, die an dem Rahmen je nach Bedürfnis aufgehängt und verschoben werden können, sollen die Ballons im Gleichgewicht erhalten werden; Schleppseile sollen das Aufsteigen der Ballons über eine gewisse Höhe (500 Fuß) hinaus verhindern; mit dem Schiff, von dem aus die Ballonfahrt unternommen wird, würde man durch einen Draht, der von einem an den Rahmen angebrachten großen Rad abgewickelt wird, telegraphische Verbindungen unterhalten. Durch die Messung der Menge des abgewickelten Drahtes würde man die zurückgelegte Entfernung ermitteln.
Er schlägt vor, die Ballons Ende Mai aufsteigen zu lassen. In Folge der unweit des Nordpols herrschenden eigentümlichen Windverhältnisse hofft er sich dem Pol bis auf mindestens 20 englische Meilen nähern zu können. Die Ballons würden sodann sicher vor Anker gelegt, die Reise zum Nordpol fortgesetzt und dort die erforderlichen Beobachtungen gemacht. Mit einem günstigen Retourwind würde er die Rückreise antreten, nachdem er die Füllung der Ballons aus den mitgenommenen Vorräten von Gas ergänzt hätte. Bei den erforderlichen Landreisen würden die mitgeführten Hunde und Schlitten benutzt.
Er wird Herren mitnehmen, die zur Durchführung von astronomischen, botanischen, zoologischen, meteorologischen und anderen wissenschaftlichen Beobachtungen geeignet sind.
Er blickt ernst auf die Asche seiner Zigarre, die jetzt in einem ganzen Stück auf den Boden hinabfällt und somit ein günstiges Vorzeichen für seine geplante Reise darstellt.
Sein Nachbar neigt gedankenvoll den Kopf.
Der Mensch wird nie fliegen können wie der Sperling, wie die Taube, wie die Krähe und so weiter. Zu solchem Flug reicht die Muskelkraft des Menschen nicht aus.
Er sieht aber mehrere große Aufgaben für die Zukunft. Erstens. In dreihundert Jahren wird man eine Bevölkerung von über zweiundneunzigtausend Millionen Menschen zählen. Wo sollen die ungeheuren Menschenmassen Obdach und Nahrung finden? Er sieht die Menschen den Bauch der Erde durchwühlen. Dann ziehen sie aufs Meer hinaus. Die Menschen werden also das Festland verlassen und sich auf der Meeresfläche ansiedeln. Der Aufenthalt auf dem Meer ist gesund.
Er jedoch hat das Problem weitergehender und gründlicher gelöst.
Er hat den Thermophon erfunden.
Er hat die Pläne fertig gezeichnet und an die wichtigen Männer der Welt gesandt. Es müsse nämlich auf eine einfache Weise gelingen, die Wärmeschwingungen des Weltäthers in Elektrizität und diese, am Bestimmungsort angelangt, wieder in Wärme zu verwandeln. Ein einziger Draht könnte im Stande sein, an der Endstation eines Thermophons dieselbe Temperatur hervorzurufen, welcher er an der Anfangsstation ausgesetzt war. Da hierdurch nicht nur ein unendlich vereinfachtes Heizungssystem der menschlichen Wohnungen ermöglicht würde, sondern die nördlich gelegenen Länder ihr ganzes Klima telegraphisch oder thermophonisch aus den Tropen beziehen könnten, so wäre diese Erfindung vielleicht die wichtigste für das Menschengeschlecht. Nichts wäre leichter, als ein paar tausend Thermophondrähte vom Äquator zu den Polen zu ziehen, und dann wäre es ganz gut möglich, mit südlicher Glut das nordische Eis zu schmelzen und den tief gefrorenen Boden allmählich aufzutauen. Die Polargegenden sind vom ewigen Eis befreit und trockengelegt. Mit himmlischer Kraft werden die Eiskappen des Erdballs zertrümmert. In Grönland werden Bananen und Palmen wachsen.
Eine herrlichere, glänzendere Welt wird entstehen.
Die größten Triumphe feiert die Menschheit nämlich immer dann, wenn sie die Gewalt der Naturkräfte im Großen besiegt, wenn sie die Oberfläche unseres Planeten nach ihrem Willen verändert und das Klima nach ihren Bedürfnissen umgestaltet.
Er lacht glücklich. Er ist ein Ingenieur. Er hat sich in seiner Freizeit dem schwierigen Problem der Herstellung unnachahmbarer Banknoten gewidmet und dieses auch gelöst.
Die Zeit ist groß, ruft er aus.
Ja, die Zeit ist groß! sagt sein Nachbar, ein Privatier mit großer Allgemeinbildung, außerdem Liebhaber der Sterne.
Zunächst erzählt er von einer neuen Erfindung, von der er soeben gelesen hat: Es soll jetzt Papierzähne von unverwüstlicher Dauerhaftigkeit geben. Es sei überhaupt völlig unglaublich, was man mit Papier alles anstellen könne. In Amerika gebe es schon lange Papierwäsche und Fässer aus Papier.
Ebenso sei es gelungen, Eisenbahnschienen aus Papier herzustellen.
Auf der Papierausstellung in Berlin sei ein ganzes Haus aus Papier gebaut worden, mit Papierteppichen, Papiervorhängen und Möbeln aus Pappmasse. Wo waren wir? Die Zeit ist groß: Raum und Zeit haben wir sozusagen überwunden.
Das Bild des Blitzes bannen wir auf eine Glasplatte; wir sprechen auf hunderte und schreiben auf tausende von Meilen Entfernung, wir stauen Tönefluten in einem winzigen Instrument und überliefern der Nachwelt die Klangpalette begnadeter Menschenstimmen.
Unser Auge durchforscht die tiefsten kosmischen Fernen.
Alles, was der Mensch denken kann, kann er auch in die Wirklichkeit umsetzen. Dem menschlichen Erfindergeist sind keine, er wiederholt: keine Grenzen gesetzt. Er persönlich habe eine Lieblingsidee:
Könnte man eine Kanone mit einer hinreichend starken Ladung versehen, so wäre man im Stande, eine Kugel mit einer Kraft abzuschießen, welche ein Herunterfallen zur Erde unmöglich machte, so daß die Kugel eine krumme Linie um die Erde beschreiben müßte und somit gleichsam einen künstlichen Mond darstellen würde, welcher ganz denselben Gesetzen unterworfen wäre wie der natürliche.
Eine der leichtesten Aufgaben der Mechanik ist es nun aber, die Kraft beziehungsweise die Anfangsgeschwindigkeit festzustellen, welche eine derartige Kanonenkugel nötig hat, um sich für immer von der Erde zu trennen; diese Geschwindigkeit ist die Quadratwurzel aus dem Produkt der Fallhöhe und dem Durchmesser der Erde und beträgt 7617 Meter.
Gäbe man einer Kanonenkugel einen Durchmesser von 30 Metern und nähme man an, daß sie sich von der Erdoberfläche nur um 200 Kilometer entfernte, so würden wir sie des Nachts ganz gut mit bloßem Auge wahrnehmen können und zwar in derselben scheinbaren Größe wie den Planeten Saturn, besonders wenn ihre Außenfläche mit möglichst vollkommenen Spiegeln überzogen würde. Durch Jahrmillionen würde dieser Körper seinen Heimatplaneten umkreisen.
Er nimmt den vollen Aschenbecher und läßt ihn um den Kopf seines Nachbarn kreisen, wobei etwas Asche auf dessen Scheitel rieselt.
Dann sinken alle drei ermattet in ihren Sesseln zurück.