Aus Moskauer Küchen
Andreas Heckmann
Ist die "russische Gitarrenlyrik" im Westen bekannt? Denkt man dort nicht allenfalls an Alexandra, die mit rauchiger Stimme Balalaiken und Zigeunerjungen besang, die am Feuer Gitarre spielten? Und sieht vor dem geistigen Auge, wie Omar Sharif durch Birkenwälder Julie Christie nacheilt (oder war's umgekehrt?), in David Leans Doktor Schiwago? Im Osten sieht das anders aus, bei Menschen jedenfalls, die Teil der Magnitisdat-Generation sind, also in den 60er, 70er, 80er Jahren private Tonbandvervielfältigungen etwa von Liedern zur Gitarre hörten, wie sie in Moskauer Küchen aufgezeichnet wurden und ihren Weg durchs Land und durch die Bruderländer machten, von Millionen klandestin gehört. Soviet underground, wenn man so will, etwas Verschworenes, Zirkelhaftes, ein Versprechen auf bessere Zeiten.
Neben dem im Westen zumindest namentlich bekannten Wladimir Wyssozki (1938-80) ist als Vertreter dieser Gitarrenlyrik unbedingt der Georgier Bulat Okudschawa (1924-97) zu nennen, zu dessen unermüdlichen Propagatoren seit DDR-Zeiten Wolf Biermann und Ekkehard Maaß gehören. Biermann integrierte in seine Konzerte gern Okudschawas "Ach die erste Liebe", Maaß geht in alter Bardentradition mit seinem Okudschawa-Programm auf Wanderschaft, erzählt aus dem Leben des Singersongwriters (wie er ihn sicher nicht nennen würde), singt auf Russisch und dann in deutscher Übersetzung seine Lieder zur Gitarre, meist in Berlin und umzu. In der Zionskirche war's, wo ich Anfang April ein Konzert von ihm im Vorfeld des 100. Geburtstags von Okudschawa hörte, und kalt war's an diesem besonderen Ort im Prenzlauer Berg, neben der Gethsemanekirche einem wichtigen Treffpunkt der DDR-Opposition in den späten 80er Jahren. Draußen laue Frühlingsluft, drinnen aber schlotterte das Publikum, und auch dem unermüdlichen Ekke Maaß drohten die frierenden Finger zu versagen, aber er hat sein Programm so freundlich wie unerbittlich durchgezogen.
Und ich als Westler dachte einmal mehr: Wie schön sie ist, die russische Sprache! Doch anders als der Interpret und ein Gutteil des Publikums (oft ältere Semester) verstehe ich kein Russisch, war also auf Maaß' Übersetzungen angewiesen, die oft sehr gelungen sind, da bin ich mir sicher, aber dem poetischen Kern der Texte vermutlich nicht näher kommen als die beste Übersetzung von Bob Dylan aus dem Englischen ins Deutsche. Auf die ich immerhin nicht angewiesen bin. Und so steht man da als Wessi und kratzt am Eisberg, ratlos, aber guten Willens.
Und nimmt das Gefühl des Ausgeschlossenseins, des nur vage Anempfinden-Könnens aus dem Konzert mit, erlebt den Osten einmal mehr als fremd. Und das, obwohl Ekke Maaß, Sohn eines aus dem Baltikum stammenden Pfarrers, ein Menschenfänger und Kommunikator von Rang und Gnaden ist, der in seiner Wohnung in der Schönfließer Straße seit den 70er Jahren Lesungen und Konzerte der Kulturszene Prenzlauer Berg organisiert hat und bis heute Salons abhält, auf denen etwa der Osteuropahistoriker Karl Schlögel referierte oder die Fotografin und bildende Künstlerin Gabriele Stötzer ihr bei Spector erschienenes Buch über die Stasi-Schikanen vorstellte, denen sie und andere Kunstschaffende in den 70ern und 80ern in Erfurt ausgesetzt waren. Elke Erb hat dort gelesen, auch viele russische Poeten und Autorinnen, wie überhaupt eine große Aufgeschlossenheit für alles Russische da war und da ist, das nicht staatsfromm-ideologisch daherkam oder -kommt. Und Helga Paris, deren Aufnahmen aus dem Ostberlin der 60er bis 80er Jahre, deren fotografische Kunst insgesamt nicht hoch genug gepriesen werden kann, hat einige dieser Zusammenkünfte in wunderbaren Aufnahmen festgehalten. Ekke Maaß spricht perfekt Russisch, kennt die russische Literatur, ist oder war mit vielen russischen und georgischen Künstlern befreundet, etwa mit Sergej Parajanov, dessen irrwitzige, extrem stilisierte Parabeln anlässlich seines 100. Geburtstags kürzlich auch in deutschen Lichtspielhäusern wieder zu sehen waren. Und das war in der Sowjetunion möglich?, fragte ich mich augenreibend im Münchner Filmmuseum. Sehr selten ja und unter besonderen Bedingungen. Es war mit Tarkowski nicht anders.
Ekkehard Maaß hat in Mein Jahrhundert fünfzig Liedtexte des von ihm Verehrten Okudschawa im russischen Original und in meist eigener Übersetzung versammelt, und bei nicht wenigen dieser Lieder lässt sich auf Deutsch zumindest ahnen, was sie ihren russischen oder slawisch sprechenden Fans bedeutet haben und bedeuten. Ein Handicap des schön gestalteten Buchs ist allerdings, dass ihm keine CD beiliegt, die einen vollständigeren Zugang zu Okudschawas Werk geboten hätte. Aber es gibt ja das Internet, in dem sich vermittels der einschlägigen Stichworte bei youtube der Salon finden lässt, den Maaß Anfang Mai 2024 bei sich veranstaltet hat. Dort hat er 25 Okudschawa-Lieder teils russisch, teils deutsch gesungen, in Anwesenheit auch von Wolf Biermann und Angela Merkel, die die Musik des Georgiers seit ihrer Moskauer Studienzeit schätzt. Wer also die Investition in das Buch scheut, dem sei dieses zweistündige Video aus Maaß' Salon ans Herz gelegt, dessen originalgetreuer Studionachbau übrigens in Annekatrin Hendels packender Dokumentation Anderson zu sehen war. |