Phantasmagorische Expeditionen ins Messtischblattgeviert
Andreas Heckmann
Hans Jürgen von der Wense (1894-1966) war neben vielem anderen auch Geoästhetiker, war also darauf aus, die Elemente einer Landschaft mit allen Sinnen zu erfahren und intellektuell zu durchdringen. Anders als Alexander von Humboldt drängte es ihn weder auf den Gipfel des Teide auf Teneriffa noch in den Urwald Südamerikas – ihm genügten die Mittelgebirgslandschaften Südniedersachsens (von ihm Ostfalen genannt), Nordhessens und Ostwestfalens. Diese unspektakuläre, vor den Toren Kassels und Göttingens (Wohnorten Wenses) gelegenen Regionen wurden ihm zu Territorien, die erahnt, erspürt, denen aufgelauert werden musste und die sich durch Wasserscheiden, Höhenzüge, Geologie in Kammern aufteilen ließen, die Wense als Kunstwerke erfuhr. Es ging ihm dabei nicht um schöne Aussichten, sondern um Kreuzungspunkte und Übergänge, die in der Wanderbewegung erfahren wurden, wobei Wenses Streifzüge am besten wohl als ekstatische Erfahrungen zu beschreiben sind. Ihm stiftete das Durchqueren von Landschaften keine Harmonie, sondern ließ asymmetrische Spannungen fühlbar werden, ließ ihn die "Zerreißwut" der Landschaft erleben. Von seinen Erfahrungen hat Wense in ekstatischen Konfessionen Zeugnis abgelegt, in Briefen zumal an Mäzene, an Freundinnen und junge Freunde wie Dieter Heim und Hartwig Eickhoff, dem der Band Routen I: Südniedersachsen gewidmet ist, in Wandertagebüchern, deren elliptisch-eruptiver Furor bannt, aber auch in eher wissenschaftlich anmutenden Materialsammlungen, von denen eine Menge geografisch geordneter Mappen zeugen. All diese Bestände hat Wense ständig umgeschichtet und erweitert, ein manischer Verschriftlicher, Sammler, Plänemacher, der über all dem Plänemachen nie zum Werk durchdrang, dessen Nachlass aber gerade dadurch – so sein kongenialer Herausgeber Reiner Niehoff, ein begnadeter Wissenschaftsessayist und luzider Interpret und Inszenator von Wenses fast ausschließlich aus Fragmenten bestehendem Werk in seinem Nachwort, aus dem diese Besprechung vielfach schöpft – in seinem unhierarchischen Nebeneinander ein Abbild des Wense'schen Denkens ist, dessen Universalismus sich bloß einer Ordnung allein verweigerte. Stattdessen schuf Wense ein Prisma an Ordnungsmöglichkeiten und bereitete damit selbst die Bühne, auf der sich das hochpoetische Sprachmaterial eines der großen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts immer aufs Neue produktiv arrangieren lässt. Routen 1: Südniedersachsen (und den geplanten Folgebänden zu Nordhessen und Ostwestfalen) liegt die Idee zugrunde, Wenses verstreut überlieferte Schilderungen seiner Streifzüge zu Wanderungen zusammenzustellen. Großkapitel widmen sich Göttingen und Umgebung, führen vom Weserbergland zum Leinegraben, vom Göttinger Wald ins Duderstädter Land, in den Harz, über den Solling zum Vogler pp, und ein Ortsregister erschließt die besprochenen Orte nach Landkreisen. Tagebucheinträge, Postkarten, Briefstellen, Mappennotate von Mitte der 40er bis Mitte der 60er Jahre wurden zu Wanderungen zusammengefasst, also im Messtischkartenuniversum lokalisiert. Wer aber will durch eine in den letzten sechzig bis achtzig Jahren vielfach veränderte, teils vermutlich nur noch schwer wiedererkennbare und ganz anders wahrgenommene Landschaft wandern, seinen Wense im Gepäck? Vielleicht wird man Wenses Denken eher gerecht, wenn man die oben genannten Landschaften ins Phantasmagorische transponiert, wie in Fantasyromanen durch Portale erreichbar, um sich, kaum ist man über die Schwelle, von einem weißbärtigen Enthusiasten mit smaragdgrün schillernden Augen und Funken schlagendem Wanderstab führen zu lassen, aber bitte als armchair traveller, wohl gar im Traum. Und was sagt der Weißbart? Am 1. Mai 1947 etwa: "Und das gibt es, fasse dies: Montag mit Dieter ganz früh nach Herzberg, regensturm, kalt, wenig sicht, und schnell auf die Hanskühnenburg, wo grausiger orkan, wolken fauchten wie wilde tiere, die jetzt fast ganz gerodete weitsichtbare Ackerstraße brockenzu gegangen, dazwischen wahnsinnig herrliche blicke, aus den tiefen dampfende nebel, und zurück, Bärengarten, Kap des Harzes, auch gerodet, fürchterliches gewitter, unerschrocken weiter über die Heide und 600 m steil hinab zur Sösesperre und Osterode. Fichtenwald hinter jungem birkengrün, oben war noch winter. In O[sterode] sogroße zugverspätung, dass kein Anschluss mehr nach Gött. Im viehwagen finster auf boden hockend 2 stunden bis Northeim, gerüttelt, wo Bhf. zerstört, baracke überfüllt, nächster zug früh um 6, entschluss: wir gehn – nach 30 km nun noch schossee 20 km!! Und es war unsagbar, mond in schwarzem gewölk, wetterleuchten, flüsternder wind, scheues gesindel, oft im graben sich duckend, unheimlich aufregend, um 4 waren wir hier, ich mit völlig zerschrundenen schuhen." Hat man geträumt, geschwelgt, mit tränennassen Augen gesonnen, verführt vom Wense-Blick auf eine charismatisch wahrgenommene Welt (und es ist die in moralischen Trümmern liegende Welt der Nachkriegszeit!), so kann man aufbrechen, kann das einst paradiesisch schöne Eichsfeld durchwandern und sagen: Wense hat mich träumend sehen und sehend träumen gelehrt. Oder meine Sinne doch auf wundersame Weise geschärft, enhanced, wie es in englischsprachigen Fantasyromanen heißt. Auf die hier rekurriert zu haben - der Rezensent muss es zugeben -, sich einer déformation professionnelle verdankt, da er als Übersetzer gegenwärtig recht viele Fantasyromane ins Deutsche zu bringen hat. |