Wenn Grasbäume flüstern
Rolf Birkholz
Es ist "Eisige Nacht und der Hund / taumelt über den mondhellen Platz, / trägt leise seinen Schatten ins Haus." Ähnlich wie der Hund in diesem Dreizeiler "Fotografie" führen auch manche Gedichte von Marion Gay unter bestimmten Voraussetzungen sichtbare und doch nicht greifbare Erscheinungen vor Augen. Oder von ihr Beschriebenes mag erst unauffällig gewesen sein ("Er muss durch die Hintertür geschlichen sein") wie der Farn in "Epiphyt (Geweihfarn)", bis er sich "ganz selbstverständlich den sonnigsten Platz im Glaspalast / erobert" hat. Wie den unscheinbaren Hundeschatten bringt auch die üppige Entwicklung der Pflanze erst die Sichtweise der Dichterin nahe.
Zwei Zyklen bilden die Schwerpunkte des, nach Veröffentlichungen in anderen Textgattungen, ersten, mit eigenen Illustrationen angereicherten, nach den Himmelsrichtungen in vier Kapitel gegliederten Lyrikbandes der in Hamm lebenden Autorin: Grasbaumgewächse. In der einen Gedichtfolge geht es durch Neapel, wo religiöse und weltliche Wünsche und Bemühungen sich mischen: "in allen Nischen sind / Heilige gebannt" ist hier zu sehen, nebenan "wringen Frauen Lottozahlen / aus den Träumen." Überall "Spiegelungen Täuschungen", Pulcinella legt "das Buch der Zahlen / als Köder aus". Das berühmte neapolitanische Blutwunder des Januarius bleibt unterdessen aus, "dieses / gottverdammte Blut / will und will nicht / flüssig werden." Anderes "will und will nicht / ruhig werden dieses / störrische Blut!" Wie auch, wo sogar "die Blumen lodern / unter Schneewittchenglas". Und wenn "zwei Schwestern / die Laken Neapels / pressen und wringen daraus / tröpfchenweise / Glück", so gelingt es Marion Gay in ihrem Schreiben, freilich auf sanftere Weise, Begleiterscheinungen der Phänomene zu erkennen und eben poetisch auszudrücken.
Das gilt auch für "American Cycle (Maine)". "Sommer wie Treibholz und Libellen / unter der Haut der Veranda sah ich // wie Ruderboote Kajaks und meine / Vorstellungen kopfüber zu Wasser // getragen wurden. Die Trauerbienen / waren ein Jahr zu früh gekommen", hebt diese als Langgedicht zu lesende Versreihe an. Es geht den Fluss hinunter und übers Land, da "feierten wir die Felsenfeste / wie sie fielen". Und "am Fluss waren wir wurzelnde / Eschen me & you and a dog / named Daisy", klingt der bekannte Song von Lobo durch. "In jenen Sommern hinkte ich der Zeit nach", an der Interstate "lockte Motel Number 6", dann wieder "wasted land soweit die Geier / munkelten". Später begegnen "ganze Pick-ups / voll Sprachmüll, jedes Wort sein eigener Angreifer". Solches Material transportiert Marion Gays Buch nicht. Ihre Worte greifen nicht, sie ziehen an. "An See verließ sich der Fischer auf Wind / statt dem Flüstern der Grasbäume zu trauen." Wir aber lauschen ihnen gern. |