Am Erker 86

Antje Doßmann: Schemen

 
Rezensionen

Antje Doßmann: Schemen
 

Aufgelesen, nach dem Fall
Rolf Birkholz

Schemenhafte Züge gehören zur Dich­tung. Sie lassen zwischen den Versen verweilen, sie machen zugleich manches deutlicher als gedacht. Antje Doßmann hat mit Schemen daher einen so allge­meinen wie treffenden Titel für ihren ersten Gedichtband gewählt.
Das Buch mit passenden, anregenden Grafiken von Stefanie Schwedes eröffnet ein weites Themenfeld. Dafür stehen etwa auch die Widmungen von Gedich­ten an die jüdische Dichterin Nelly Sachs einerseits und an die besonderen, auch außerchristlichen Orientierungen vermit­telbaren Heiligen Franz und Klara von Assisi andererseits.
Die kürzeste der oft eher schmalen, sinn­voll langgezogenen Versstrecken, "ika­rus", bringt eine poetische Motivation der Autorin auf den Punkt: "von der mutter / die schwerkraft / und das leben, / vom vater / die flügel / und den tod". Die Mut­ter scheint hier das Bessere zu geben. Aber was wäre, im übertragenen Sinne, ein Leben ohne Flügel? Ein Gedicht über die nachwirkende Prägung durch das El­ternhaus ("hasen") endet mit der Fest­stellung: "seitdem schlendere ich, / fliege manchmal, / hüpfe."
Doch mit einem Fallen ("wir fielen wie fehler") ist dabei immer zu rechnen. Das Fallen, das Gefallene oder ganz allge­mein das negativ wie positiv Geschehene wird lyrisch aufgehoben. In "kastanien", neben denen die Bielefelderin auch Enzian, Quitte und Christrose empfeh­lenswert betrachtet, "glänzen sie mir / entgegen überall: kastanien". Sie lösen "ketten, kaskaden / von erinnerungen" aus, "und noch immer / kommt das aufle­sen / nach dem fall".
Antje Doßmann, 1967 geboren, liest vie­les auf, ob Momente der Berliner Kind­heit, der Liebe ("schemen") oder der kri­senhaften Zeit. Sie ruft auf, am Gräberfeld stellvertretend einem der Nächste zu sein, "der damals blieb / in der hölle von verdun". Die deutsche Inschrift über dem Tor von Auschwitz brennt "löcher in unse­re / klopfende stirn". Bedrückt fühlt die ly­rische Person, wie sie aus dem Navajo-Reservat  "mit weißer haut / noch einmal / davonkam". Aspektreich behan­delt die Poetin einige christliche Themen, ob in "maria magdalena", "advent" oder "apokalypse/zeitenwende".
Noch etwas Prominenz klingt an. In "eini­ges über quitten" werden, in Klammern, (Jürgen) "prochnow-narben" sichtbar. Und während die Autorin Auguste Rodin ein wenig über die Schulter in die Seele schaut, sieht sie vor allem Jean Baud ins Gemüt, während er für den "Denker" Mo­dell sitzt, dem Preisboxer, der seinem eher kunstfernen Umfeld lieber nichts von seinen Erfahrungen im Atelier erzähl­te, auch nicht von der "heiligkeit, / an et­was zu glauben, / das allein durch den gedanken / siege vollbrachte - // sie hät­ten nur / dreckig darüber gelacht". Wir in­des freuen uns über dieses Buch.

 

Antje Doßmann: Schemen. Gedichte. Mit Grafiken von Stefanie Schwedes. 92 Seiten. Ziethen. Oschersleben 2023. € 20,00.