Am Erker 85

Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus

 
Rezensionen

Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus
 

Streifzüge durch Syrakus
Thorsten Paprotny

Von oben her schenkt Sizilien Flugreisenden eine betörende, unvergessliche Anschauung, literarisch sowie philosophisch stellt insbesondere Syrakus einen verführerisch kunstvollen Kosmos dar. Der Dichter Joachim Sartorius nähert sich der sizilischen Stadt gelassen, aufmerksam, kundig und voller Sympathie. Versonnen schreibt er über Ortigia, die Altstadt von Syrakus: "Die Weite des Meeres war überall zu spüren. Es schimmerte am Ende eines jeden Straßenzugs." An den Tyrannen Dionys, dessen Gestalt aus Schillers Ballade Die Bürgschaft allen bekannt sein dürfte, die ihre Deutschstunden nicht gänzlich vergessen haben, erinnert er ebenso wie an den schwermütigen August von Platen und an Platons Reisen.
Sartorius flaniert durch Geschichte und Gegenwart, wenn er durch die Straßen von Syrakus schlendert. Er könne, so schreibt er, stundenlang auf das Meer hinausschauen und die betörenden Farben der See betrachten. Die See sei oft "taubengrau". Aber da Ortigia eine "Wachtelinsel" sei, müsse es heißen – "wachtelgrau": "Nur im Sommer ist das Meer blau oder grün: Tiefblau, tiefes Blau, rabiates Blau, schroffes Blau oder in der Nähe des Ufers karibikgrün, giftgrün wie Glas, wie Waldmeistergelee."
In Syrakus herrsche ein "ganz eigenes Zeitgefühl". Sartorius beschreibt die Stadt als warm und herzlich, mitnichten also als eine "eingefrorene Welt" geschichtsträchtiger Begebnisse. Syrakus lädt zu Traumbildern ein. In der Stadt wird von Träumen erzählt, so als ob die Wirklichkeit des täglichen Lebens anderswo sei. Der Dichter geht passioniert seiner Kunst nach, formt und gestaltet "Häuser aus Worten". Oft denkt er an Platon, den Philosophen, der der athenischen Langeweile entronnen war und auf Sizilien nach einem "Fundament für das ideale Staatswesen" suchte. Sartorius idealisiert den griechischen Denker und vertraut zu sehr Plutarchs Schilderungen, dass dieser in Syrakus "die ganze Menschheit" habe in den Blick nehmen und nach einem "tugendhaften Mann" suchen wollen – und bloß den Despoten Dionysios gefunden habe. Doch auch Platon stellte die Sklavenhaltergesellschaft seiner Zeit nicht infrage, so wenig wie die hellenische Praxis der Knabenliebe. Philosophen wie ihn, von Altphilologen früher verklärt, dürfen wir heute illusionslos sehen.
Auch der traurige Romantiker Platen reiste sehnsüchtig nach Süden, poetisch gestimmt, bald schwer krank – eine Straße, die Via Augusto von Platen, ist nach ihm benannt. Vermutlich wurde der Dichter weniger feierlich bestattet, als der Kunsthistoriker Schulz Platens Mutter berichtet. Sartorius schreibt nüchtern: "Heute, fast zweihundert Jahre später, donnern Lastwagen über die Via Augusto von Platen und übertönen Zikaden und Erinnerungen."
1943, als die Alliierten Syrakus bombardierten, dienten die Katakomben der Stadt als Zufluchtsorte und "Luftschutzkeller". Sartorius erzählt von Tagebuchaufzeichnungen eines Wehrmachtssoldaten, der Zehntausende junger Männer gesehen habe, die sich bewaffnet gegenüberstanden, ohne zu wissen, "warum sie sich töten sollen". Sie schossen trotzdem aufeinander.
Der Dichter sammelt alte Postkarten von Syrakus, staunt über die Natur und begibt sich auch durch "unwegsames Gelände", die "Gerüche des Grases" einsaugend. Fasziniert betrachtet er Eidechsen, die inmitten eines Zeus-Tempels sich aufhalten und in "sommerlicher Dösigkeit" verharren: "Die klugen schwarzen Stecknadelaugen, bildete ich mir ein, verfolgten meine Bewegungen. Ich hatte vom Markt ein paar reife Aprikosen in einer Papiertüte mitgenommen. Der Obstgeruch zog sie an, und es gelang mir, eine der schlanken Echsen auf meinen Handteller zu locken. Sie zupfte energisch an dem orangegelben Fruchtfleisch." Diese Eidechsen sind für den Erzähler ungleich aufregender als die historischen Bauwerke. So berichtet Joachim Sartorius eindrücklich von seinen Streifzügen durch Syrakus und lädt dazu ein, eine Weile mit ihm, gedankenvoll, sinnierend unterwegs zu sein. Diese mitunter phantasievoll entrückt anmutende literarische Reise nach Syrakus weiß zu gefallen.

 

Joachim Sartorius: Die Versuchung von Syrakus. 176 Seiten. Mare. Hamburg 2023. € 20,00.