Am Erker 79

Dieter Henrich: Von sich selbst wissen

 
Rezensionen

Dieter Henrich: Von sich selbst wissen
 

Das bin ich
Gisela Trahms

Ein zweijähriges Kind muss 1929 zu einer schwierigen Operation ins Krankenhaus und bis zur Heilung vier Monate lang dort bleiben. Die streng reglementierte Besuchszeit der Eltern ist auf zweimal eine Stunde pro Woche begrenzt. Die Mutter fühlt, was diese Verlassenheit für das Kind bedeutet, und kämpft sich immer wieder zu ihm durch, kann aber die Trennung nicht aufheben. Sein nun mehr als neunzig Jahre währendes Leben lang hat Dieter Henrich die erlittene Angst nicht vergessen. Für den Zwanzigjährigen ist sie ein Beweggrund, sich der Philosophie zuzuwenden. Außerdem hat er die Zuversicht: Das kann ich.
Darin täuscht er sich nicht. Als einflussreicher, produktiver Lehrstuhlinhaber unterrichtet er an deutschen und amerikanischen Universitäten. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. Auch als Emeritus forscht und schreibt er weiter und hält zu Hause ein Seminar für Doktoranden ab.
Wer die eben erschienene CD Von sich selbst wissen einlegt, begibt sich ebenfalls in die entspannte Atmosphäre von Henrichs Wohnzimmer und folgt keiner Vorlesung, sondern hört den weisen Mann erzählen, lebhaft, ohne Manuskript und aus dem Augenblick heraus. Die beiden Gesprächspartner Klaus Sander und Alexandru Bulucz nimmt man nur indirekt wahr: Sie und der Toningenieur Michael Schlappa haben aus den Aufnahmeprotokollen ein Stück Audio-Literatur gemacht, dessen Charme jeder spürt, der einen Funken Interesse für philosophische Fragen mitbringt. Von Kapitel zu Kapitel kann man verfolgen, wie theoretische Analysen und private Erlebnisse einander erhellen; beide werden in ihrer eigenen Wahrheit anerkannt, ein seltener Genuss.
Zunächst stellt Henrich die Philosophie als "architektonische Disziplin" vor, als imposantes Wissensgebäude, das sich stetig um neue Stockwerke und Seitenflügel erweitert. Andererseits müssen in diesen Gefügen jene bohrenden Fragen aufleuchten, die jeden Menschen irgendwann umtreiben. Jeder kennt Situationen, wo der Boden bebt; jeder erlebt Krisen, Leiden, Verluste und Zweifel. War falsch, was man für wahr hielt? War richtig, was man getan hat?
Henrich erzählt, wie ihn die Existenzangst des Kindes, das weder fragen noch verstehen konnte, später, als Philosoph, die Brutalität des Nihilismus fühlen lässt. Alles scheint wertlos, da alles vergeht. In dieser Einsicht glaubt der Nihilist anderen Menschen überlegen zu sein, die ihre Zeit in lächerlichen Anstrengungen für lächerliche Ziele vergeuden. Er selbst droht allerdings in Starre zu verfallen, da doch nichts die Mühe lohnt. Um die Erstarrung aufzubrechen, braucht es eine Gegenkraft, die Henrich in der unbedingten, liebevollen Zuwendung seiner Eltern erfuhr. Deshalb stellt er die Erzählung seines Lebens unter die Leitworte "Dankbarkeit" und "Erinnern".
Während in Romanen meist die Kindheitsschrecken dominieren, berichtet hier ein Vielerfahrener ohne Sentimentalität von einer geglückten Elternschaft. Ganz nah rückt die Stimme dem Hörer, so viel Erinnertes schwingt in ihr mit. Als der Vater stirbt, ist der Sohn erst elf Jahre alt. Als die Mutter stirbt, ist er erwachsen, aber noch jung. Später nennt er diese Gleichzeitigkeit von Erschütterung, Schmerz, Dankbarkeit und Vergegenwärtigung eine "Sammlung des Lebens". Zu dieser Bezeichnung fand er durch die Werke zweier Dichter: Beckett und Hölderlin. Beckett entdeckte er früh, in den düsteren Romanen und Stücken begegnet der Nihilist sich selbst. Aber: "Hölderlin hält stand gegen Beckett", sagt er heute; für Hölderlin haben Menschen Religion, um sich zu erinnern und zu danken. Die Eucharistie ist ihre Feier - jenseits kirchlicher Dogmen.
Henrichs Sprache ruht in der Vergangenheit, in der ausgefeilten Rhetorik der Denker des 19. und 20. Jahrhunderts. Von ihr geleitet, späht der Hörer in die Denk-Räume von Platon, Kant und Leibniz, und sollte ihm diese oder jene Bemerkung dunkel bleiben, entschädigt die ästhetische Freude an der Formulierung. Henrichs Lebensthema ist das Selbstbewusstsein, umfangreiche Werke hat er der Auseinandersetzung mit Fichte, Hegel und anderen gewidmet. Hier, im Rahmen seiner Erzählung, beschränkt er sich auf lebenspraktische Einsichten und bekennt, nicht ohne Teilnahme an und von Mitmenschen leben zu können. Die Geburt seiner Töchter erlebte er als großes Glück. Hans-Georg Gadamer, sein Lehrer, wurde zum Freund.
Den Schluss bildet ein Preislied auf die Lust des Schaffens, in dem sich der Einzelne in seinen individuellen Talenten erfährt. Noch höher wäre ein "Mitsein" zu schätzen, als dessen frühes Beispiel der Mythos von Philemon und Baucis überliefert ist. Das alt gewordene Paar erbittet von Zeus einen gleichzeitigen Tod. Dieses Eins in Zwei, sagt Henrich, sei zwar vorstellbar und zu wünschen, aber so selten, dass auch in einem erfüllten Leben, wie es ihm gegönnt war, der Mangel wohnt. Dem Hörer ist es ein Trost.

 

Von sich selbst wissen. Dieter Henrich erzählt über Erinnerung und Dankbarkeit. Regie: Alexandru Bulucz und Klaus Sander. Zwei Audio-CDs. Supposé. Wyk auf Föhr 2020. € 28,00.