Notizen aus dem Untergrund
Joachim Feldmann
"1978, als mir klar wurde, daß das Feuer der Alternativliteratur in mir erloschen war, war ich 28 Jahre alt", erinnert sich Christoph Schubert-Weller, immerhin seit 1969 als "Dichter, Verleger und Verschenkliterat" in der Szene unterwegs. Mit dem Handbuch der alternativen deutschsprachigen Literatur, das er ab 1973 gemeinsam mit dem Kulturjournalisten und Lyriker Peter Engel herausgab, legte er einen unverzichtbaren Wegweiser durch die buntblühende Kulturlandschaft abseits der etablierten Institutionen vor. Wir Spätgeborenen waren zunächst Zaungäste und sahen dem munteren literarischen Treiben eine Weile fasziniert zu, um dann selbst den Matrizendrucker anzuwerfen und unsere eigene Zeitschrift zu gründen. Schubert-Weller begann sich von der Alternativliteratur zu verabschieden, bevor Am Erker auch nur ein Jahr alt war. Und es sah nicht so aus, als würde das ziemlich dilettantisch produzierte Blatt die Siebziger überleben. Warum es anders kam, ist, obwohl es sich eigentlich kaum erklären lässt, schon oft erzählt worden.
Es wurde ein langer Abschied für Christoph Schubert-Weller. Erst im Winter 1980 erschien der Sammelband Die Alternativpresse, den er bereits 1977 mit Peter Engel und Günther Emig konzipiert hatte. Das Buch, ursprünglich zur Selbstverständigung der Szene gedacht, war zur Bilanz geworden, und die radikalen Statements aus den frühen Siebzigern ("Genossen! Organisiert euch selbst!") waren zu historischen Dokumenten mutiert.
Und nun, vier Jahrzehnte später, liegt mit Die untergründigen Jahre wieder eine Anthologie vor, die allerdings auf theoretische Abhandlungen oder Grundsatzerklärungen verzichtet. Stattdessen verspricht der Untertitel eine "kollektive Autobiographie 'alternativer' Autoren aus den 1970ern und danach". Tatsächlich weisen viele Beiträge der vorwiegend in den 1940er Jahren geborenen und bis auf eine Ausnahme männlichen Autoren Parallelen auf. "Als Autor war ich beeinflusst von den amerikanischen Beatlyrikern und fühlte mich den deutschen Dichtern der Neuen Subjektivität zugehörig", erinnert sich der 1947 geborene Peter Salomon, während Jürgen Theobaldy, Jahrgang 1944, die Lyrik erneuern wollte, "indem er ihr alles Weihevolle nahm und sie hineinholte" in sein "tägliches Tun". Man schwankte zwischen "Charles Bukowski und Allen Ginsberg" (Alfred Miersch) oder ließ sich durch "Jimi Hendrix, Pink Floyd und The Who" zu "Pop-Gedichten" inspirieren (Fitzgerald Kusz). Und das Zentrum der Bewegung, wenn man überhaupt von einem Zentrum sprechen konnte, lag nicht in Westberlin, Hamburg oder München, sondern in Bottrop. Von dort aus nämlich verschickte seit 1969 der Krupp-Angestellte Josef Wintjes alternatives Literaturgut in die ganze Republik. Zunächst monatlich, später sechsmal im Jahr erschien ein anarchisch gestalteter kommentierter Katalog namens Ulcus Molle Info, aus dem im Laufe der Zeit ein umfangreiches Magazin wurde, das alles brachte, was die Szene interessierte: Rezensionen, Statements, Polemik. Als Wintjes, dem unsere frühen Ausgaben gar nicht gefielen, endlich Am Erker in sein Angebot aufnahm, war das wie ein Ritterschlag.
Was ist von all dem geblieben? Der Literaturkritiker Michael Braun, 1958 geboren und damit der Jüngste unter den Beiträgern, spricht von ein paar Büchern und Zeitschriften, die er nicht nur aus nostalgischen Gründen aufbewahrt hat. Und das ist nicht wenig für eine literarische Bewegung, deren Blütezeit nicht einmal ein knappes Jahrzehnt dauerte und an die sich außer den Beteiligten nicht mehr viele erinnern dürften. Allein deshalb wünscht man diesen kollektiven Memoiren viel Erfolg. Denn nicht nur Veteranen der alternativen Literaturszene werden Die untergründigen Jahre mit Empathie und Vergnügen lesen. |