Tierische Zahl
Marcus Jensen
Sechshundertsechsundsechzig Bücher sind seit 1978 in Claudia Gehrkes Tübinger Verlag erschienen. Ein Grund zum Feiern! Die Ausgabe 55 des Konkursbuches würdigt aber nicht nur diese ersten vierzig Jahre, behandelt nicht ausschließlich Internes, sondern liefert auch spannende Einblicke in den Buchbetrieb an sich. Ein reicher und substanzieller Band, der seinem großen Titel Über Bücher wohltuend gerecht wird. Das Bedauern über den messbaren Schwund der Leser schlägt sich deutlich in den Beiträgen nieder. Immer wieder werden technische Einschnitte als dramatisch verändernde Faktoren angeführt, erstrangig natürlich das Internet, dessen beschleunigende, zerstreuende und damit entwertende Wirkung man zwanzig Jahre zuvor noch dem Fernsehen zugeschrieben hatte. Es kam damals und kommt heute allerdings zu keiner Maschinenstürmer-Revolte, da das Problem nicht auf aggressiver Konkurrenz und Verdrängung gründet, sondern auf Trägheit und dem mangelnden Willen zu Konzentration. Viele Beiträge liefern wehmütige Rückblicke auf das Leben 'im' Buch, aber die Verlegerin beteiligt sich nicht daran, Claudia Gehrke betont stattdessen in ihrem die Mühsal beschreibenden Einblick die Möglichkeiten und Chancen von E-Books und Weltvernetzung. Gut, letztlich liebt auch sie eindeutig das Gedruckte, den Geruch der Seiten, das handgreifliche Suchtmittel, für das man weitermacht.
Führt das Schrumpfen der Leserschaft zur Elitenbildung, zu einer Koalition der Willigen, fördert es Partikularinteressen? Das würde durchaus passen zum Wesen des Konkursbuchverlags, der immer wieder in Lücken stieß und sich über Spezialgebiete definierte, über Frauenbewegung, Erotik, Japan (Yoko Tawada), schwule und lesbische Kultur, queere Thriller und Reisebücher (Kanarische Inseln).
Isabelle Holz listet auf, was die RAF-Mitglieder in ihren Stammheimer Zellen gelesen haben oder vorgaben zu lesen, eine bizarre Mischung aus radikalpolitischkorrekter Lektüre, Codevorlagen und Micky Maus. Die Höhepunkte des Bandes sind die oft episch ausgefallenen Berichte und Beichten nicht der textlich, sondern der handwerklich Beteiligten in Herstellung, Vertrieb, Einzelhandel. Jürgen Foltz und Petra Troxler erzählen von der Vertreterfront, Robert Kump vom Überlebenskampf einer Druckerei im linksalternativen Milieu seit 1970 und Helmut Richter von der Sozialistischen Verlagsauslieferung SoVA (verblüffenderweise sogar eine Erfolgsgeschichte). Wolfgang Zwierzynski schildert in "Quichotte", wie er zwei Buchhandlungen allein betreute, die eine vormittags, die andere nachmittags. Kein Verrückter dieser Branche kann loslassen. Das Buch bindet, es muss weitergehen, auch unter dem Niedergang der breiten Leserschaft. Der Weg der Selbstausbeuter mag immer härter werden - sein Wesen ändert sich nicht. Heute gilt auf andere Weise: Das Medium ist die Botschaft. |