Wohin mit all der vielen Kunst?
Thomas Glatz
Vor einigen Jahren saß ich als nicht mehr ganz junger Kunststudent in der Cafeteria der Münchner Kunstakademie und trank meinen Milchkaffee. Am Vormittag ging es dort immer zu wie auf dem Stadelfest in Frechenrieden. Professor Bluebeard, der kanadische Fluxus-Veteran mit dem Bart, den ihm einer seiner Studenten, Mike Spike Froidl, babyblau gefärbt hatte, erklärte, wie man einen Vibrator an einem Bleistift befestigen könne. Er war ganz begeistert von der leicht vibrierenden Linie, die dann beim Zeichnen entstand. "Dieser Strich!", rief er. Professor Berger, der einige Male den Rauch seiner Zigarette vor sich hin geblasen hatte, nickte und sprach: "Es gibt doch nichts Besseres auf der Welt als einen Tee und eine frische Buttersemmel." Es schwang immer eine gewisse Schwere, ein gewisser Ernst mit in dem, was er sagte und wie er es sagte.
Die Tür ging auf, und der Lithografieprofessor Imhof, ein kleiner Mann mit schlohweißem Haar, darunter eine Glatze von der Größe eines Buchweizenkuchens, kam hereingestürzt. So aufgeregt hatte ich ihn noch nie gesehen. Nicht einmal, wenn er seine Sprechstücke vortrug. Auf Einladung fertigte Imhof nämlich Sprechstücke, materialhaft-absurde abstrakte Sprachcollagen, die er einmalig auf Ausstellungseröffnungen mit einem Sprecherteam vortrug. Professor Imhof rief erregt: "Der Hollmann is gstorm. Der Hollmann. I war grad in seim Atelier. Des is hier ums Eck. Mei, des könnt's eich ned vorstellen. Der hat ein Bild nach dem andern gmoin. Bis gestern hat er noch gmoin. Des miasd's seng! Und an Grasskamp nehmer aa no mid. Herr Professor Grasskamp, kommen's mit! Des miassn's gseng ham!" - "Das geht nicht, ich habe doch gleich Vorlesung!", entgegnete der Kunstgeschichtsprofessor Grasskamp. - "Naa, da miassn's mid! Des is glei hier ums Eck."
Der Lithografieprofessor ist dann mit einem Tross Professoren aufgeregt ins Hinterhofatelier des verstorbenen Malereiprofessors Hollmann geeilt. Ich blieb sitzen. Der Milchkaffee schmeckte plötzlich schal. Professor Grasskamp kam dann sichtlich erschüttert und etwas verspätet zu seiner Vorlesung.
Dieser Todesfall liegt nun schon einige Jahre zurück. Vor kurzem las ich in einem Hotelzimmer an der Türkischen Ägäis in Walter Grasskamps Das Kunstmuseum. Eine erfolgreiche Fehlkonstruktion und staunte nicht schlecht. Die Schilderung des Atelierbesuchs beim verstorbenen Maler Hollmann nimmt darin eine Schlüsselstellung ein. In dem sehr scharfsinnigen und lesenswerten Buch beschreibt Kunstschriftsteller Grasskamp den Atelierbesuch so:
"Es war der traurigste Raum, in dem ich je gestanden habe: eine Remise in der Maxvorstadt, einstöckig vor die hintere Mauer eines kleinen Garagenhofs gebaut - keine schlechte und vermutlich auch keine billige Lage für ein Atelier, das sich der Inhaber nach seinem Abschied von der nahe gelegenen Münchner Kunstakademie leistete. An den Wänden lehnten zahlreiche Gemälde kleinen und mittleren Formats. Auf mehreren Böcken lagen Tischlerplatten mit gestapelten Mappen, in denen Zeichnungen und Druckgrafiken geordnet waren. In dem länglichen Raum wirkten die aneinandergereihten Platten wie ein Katafalk, auf dem das grafische Werk nun aufgebahrt war. Keine konfessionsneutrale Friedhofskapelle kann so trostlos wirken wie ein Atelier, in dem der Nachlass eines gerade verstorbenen Künstlers lagert und in dem die Erben ratlos herumstehen. Nimmt man auf dem Friedhof Abschied von Menschen, deren Leben zu Ende gegangen ist, so geht es in den Ateliers immer um das Überleben, und das erst recht nach dem Tod. Wenn aber der Künstler plötzlich fehlt, der all den Bildern und Mappen den Mittelpunkt gestiftet hatte, stehen diese wie auf Abruf herum, zumal, wenn sie zahlreich sind."
Was tun mit der vielen Kunst, die ein produktiver Künstler hinterlässt? Wohin mit den vielen Bildern, die der Kunstmarkt nicht zulässt? Die Bilder würden inflationär die Preise der bisherigen Werke auf dem Markt senken. Walter Grasskamp schreibt: "Doch führt der Tod eines Künstlers nicht immer zu so sprunghaften Preissteigerungen, wie man es zuletzt etwa bei Martin Kippenberger erlebt hat. Der Regelfall ist vielmehr eine Preisbildung, die mit dem Tod zusammenbricht. Waren die Werke zuvor künstlich verknappt worden, sind die Preise nicht mehr durchzuhalten, wenn sich herumspricht, wie groß der Nachlassbestand ist."
Die Zahl der Nachlässe ist derzeit eine exponentiell steigende. Der sachkundige Professor Imhof nahm es in die Hand, sich um den Nachlass des verstorbenen Freundes zu kümmern.
Wie verhält es sich beim Nachlass eines Künstlers, für den alles Material zu Kunst werden kann? Albrecht/d. war so ein Künstler. Er hat keine Unterscheidung zwischen low und high gemacht. Bei ihm konnte alles, im wahrsten Sinne ALLES zum Material für Kunst werden. Wohin mit der nachgelassenen Kunst? Gleich komplett zurück an die Kunstakademie schicken? So abwegig ist das gar nicht.
Walter Grasskamp dazu: "Zunehmend sind daher auch Kunsthochschulen mit Anfragen von Erben ehemaliger Studenten konfrontiert. Diese wenden sich nach dem Verursacherprinzip an die Akademie, und das mit einem gewissen Recht. Hier wurden einst die Hoffnungen auf das Überleben geweckt - in dieser Hinsicht sind Kunstakademien und Kunstmuseen Zwillingsinstitute."
Im Falle von Albrecht/d. wäre das nicht möglich, weil der gelernte Bankkaufmann als Autodidakt zur Kunst kam. Für Albrecht/d. war das künstlerische Leben zugleich ein politisches. Kunst und Politik waren für ihn untrennbar verbunden, somit war jede künstlerische Handlung auch eine politische. Nach George Maciunas sollte ein (Fluxus-)Künstler einem Beruf nachgehen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und sich nach acht Stunden Arbeit seiner künstlerischen Tätigkeit widmen. Dies sollte die Unabhängigkeit des Künstlers vom Kunstbetrieb gewährleisten. Und damit die Korrumpierbarkeit des Künstlers durch den Kunstmarkt verhindern. Albrecht/d. war Realschullehrer in Stuttgart und hat "nebenher" ein beachtliches Werk geschaffen: Copy Art, Mail Art, Grafiken, Performances, Happenings und Musikaufführungen (u.a. Sessions mit Throbbing Gristle, Joseph Beuys u.v.a.). Darüber hinaus betrieb er den Produzenten-Verlag Reflection Press.
Auch der Künstler Albrecht/d. hatte großes Glück. Seine unzähligen hinterlassenen Werke, vor denen der Erbe, ein Neffe, ratlos stand und mit denen er nichts anzufangen wusste, konnten von Künstlern aus dem Umfeld des Kunstvereins Oberwelt in Stuttgart, Peter Haury, Peter und Norbert Prothmann und Ralf Siemers, noch kurz vor der Entrümpelung gesichtet, dokumentiert und letztendlich gerettet werden. Herausgekommen ist neben einer Gedächtnisausstellung der schöne, sehr lebendig gestaltete Katalog Albrecht/d. - Zum Berühmtsein eigentlich keine Zeit mit zahlreichen Abbildungen aus dem Nachlass und Texten von Weggefährten. Sehr interessant ist im Katalog herausgearbeitet, wie Albrecht/d. die Cut-Up-Technik, also das Collageprinzip, das von W. S. Burroughs und der Beat Generation auf die Literatur übertragen wurde, wiederum auf die Kunst rückübertrug. Er benutzte den Begriff Cut-Up explizit zur Beschreibung einer künstlerischen Methode, die er nicht als vollkommen synonym zur Collage sah und derer er sich bediente. Spannend sind auch seine selbstgebauten Musikinstrumente, die er als Skulpturen begriff, auf Räume übertrug, aus den Instrumenten Rauminstallationen baute und dann darin Musikperformances aufführte.
Für Peter Haury, der über ein Jahr in die Aufarbeitung des Nachlasses von Albrecht/d. investiert hat, war der schönste Aspekt daran, dass sich der Neffe, angespornt von der Entdeckerfreude der Oberwelt-Leute, nun auch für das Werk seines verstorbenen Onkels und für Kunst generell zu interessieren begann.
Bleibt zu wünschen, dass unsereinem auch einmal ein tapferer Karl Imhof oder ein wackerer Peter Haury den Nachlass vor der Entrümpelung rettet. Und zum Berühmtsein fehlt uns ja, ehrlich gesagt, auch die Zeit. |