Querköpfe, ˜denker, ˜leser
Lutz Graner
Das "Psychonautikon" ist ein lyrisch graphischer Stadtverführer aus der und in die Künstlerszene Prenzlauer Berg.
Auf der letzten Seite des Psychonautikons Prenzlauer Berg angekommen, lässt es sich nicht mehr leugnen: Eine Ahnung hat den Leser beschlichen, eine Ahnung von der Künstlerszene Prenzlauer Berg, von den 1980er Jahren bis heute. Keine rechte Ahnung hat man allerdings, wie das Buch das eigentlich geschafft hat.
Vielleicht sollte man zum Einstieg mittendrin, mit den "gelben Seiten" beginnen; in zwei Teile gegliedert findet sich, auf gelbes Papier gedruckt, ein Gespräch zwischen Annett Gröschner, Bert Papenfuß und Ronald Lippok. Und das hat schon etwas Lässiges. Der Verlag dringt nicht auf stringente, konzise Textsorten, stellt auch nicht einfach eine Audiospur online, sondern lässt entspannt plaudern und schreibt das mal eben so mit, rund 50 Seiten lang. Kommentiert werden hauptsächlich die von Papenfuß und Lippok erstellten "Stadtpläne". Graphische Kartenausschnitte, die nicht auf Orientierung im Bezirk, sondern auf Einblick in die Köpfe der beiden Künstler, ihre Erinnerungen, ihre Perspektive abheben. Damit illustrieren sie hinlänglich, wie im Grunde auch die Gedichte von Papenfuß gearbeitet sind: "Gedanken wie Geäst zwischen den Zeiten", individueller Zugriff auf einst oder gegenwärtig Erfahrbares, mit allerlei Skurrilitäten, Rätselhaftigkeiten durchwirkt, "Gedanken wie Geschling zwischen den Zehen". Querlesen reicht für die Gedichte natürlich nicht, wenngleich man sie quer lesen muss, denn das ganze Buch ist quer gesetzt; gewissermaßen ein Literatur-Kalender ohne Kalender.
Auch Bert Papenfuß versieht seine Texte mit Fußnoten, verzichtet aber - anders als Jan Kuhlbrodt - zumeist auf Kommentare und beschränkt sich auf genaue Quellenangaben und (zum Teil sehr ausführliche) Kontext-Zitate. Grundsätzlich neu ist die Idee, Gedichte mit Fußnoten zu versehen, freilich nicht. August Wilhelm Schlegel (*) spöttelte bereits vor über zweihundert Jahren, dass derlei so gewitzt sei wie "anatomische Vorlesungen über einen Braten". Sympathischerweise wird dieser Schlegel'sche Einwand im Psychonautikon unerschrocken zitiert.
Den eigenen Worten fügt Papenfuß mit Lust und List seine Fundstücke bei, ganze Strophen mitunter, gerne Englisch, mitunter Russisch. Poetisch verwertbare Entdeckungen macht er allerorten, zum einen bei Kolleginnen und Kollegen wie Brecht, Novalis, Heine, Elke Erb, Ann Cotten, zum anderen auf Internetseiten, Grabsteinen oder in "einem Grafitti (sic!) auf dem Herrenklo". (Szene-)Anspielungen werden gemacht, Lokalkolorit und Ostsozialisation scheinen auf (ohne in den Fußnoten kommentiert zu werden), so dass eine spannende Frage wäre, wie und wo genau die Leseeindrücke von Ost und West (*), In- und Outsider divergieren.
So sind die Texte letztlich postmoderne Collagen, immer für eine Überraschung gut, dabei selten völlig eingängig und gerade deswegen zur Mehrfachlektüre ermunternd; oder besser ausgedrückt: "das Versteck der Sinne ist unangespannt, / vielsagend Mark um Deut das Wortgeflecht, kirrem Gedanken folgt klirrendes Geschirr, / dem Schlangenverderben das Wurmwerden." Auch die Graphiken von Lippok sind in der Gesamtschau heterogen, mal klein im Fußnotenbereich, mal die Doppelseite ausfüllend, mal eher abstrakt, nebulös, surreal, mal gegenständlicher, stets passend und unpassend zugleich.
Essayistisch klingt der Band aus und konstatiert durchaus treffend für den Prenzlauer Berg: "Er ist überall, wo nicht nirgends ist". Fest steht aber auch: "Wo Bert Papenfuß steht, ist Prenzlauer Berg."
* Fußnote 1: Wer mit Blick auf die Quellenangabe auf S. 126 des Buches kritisch anmerken möchte, dass das Fußnoten-Zitat aber aus Friedrich Schlegels Athenäumsfragmenten stammt, sei beruhigt: Das stimmt, und A. W. Schlegel stimmt trotzdem.
* Fußnote 2: "Lest und lebt Adorno, / nee, ich meine Adolar". Westdeutschen Lesern fällt beim Namen "Adolar" sicher nicht gleich "Archibald, der Weltraumtrotter" ein. Oder doch?
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