Am Erker 71

Christoph Wenzel: lidschluss

 
Rezensionen
Christoph Wenzel: lidschluss
 

In Landschaften lesen
Rolf Birkholz

Ein Dorf als Muskelverhärtung, Hartspann als Lagebeschreibung eines Ortes "zwischen zufahrtsstrafe, wirbelsäule, schulterblatt". In dem Gedicht "Wo genau liegt Hartspann?" zeichnet Christoph Wenzel mit orthopädischen Begriffen ein gleichsam überdehntes Dorf inmitten "verspannter landschaften". Und dabei zugleich einen Haltungsgeschädigten, "der sich nach einer / schonung sehnt", dem "spaziergänge, die das weichbild massieren", gut bekämen, womöglich "zu den physiotherapeuten, die das dorf einrenken". Gleich im ersten Gedicht seines neuen Bandes lidschluss bestätigt der 1979 in Hamm geborene Christoph Wenzel seinen Ruf als origineller westfälischer Landschaftsdichter. "wenn wir von westfalen reden", beginnt ein weiteres, Zitate der urwestfälischen Annette von Droste-Hülshoff einmontierendes Gedicht, "verfallen wir am telefon / in unser altes idiom und schalten um, gebirg und fläche in der stimme". Doch, "wenn wir von westfalen reden, / sind wir schon lange nicht mehr hier und schauen online / in die oberliga, rhynern oder herne". Wenzel singt kein Loblied auf das Land, er registriert nüchtern, mit westfälischer Wärme, was er wahrnimmt: "maisfeld, acker, stacheldraht, / wiese, flure, gegend, dung: / diese geographischen flecken, westfalen / passt auf eine kuhhaut."
Als einer, der aus Hamm kommt, schaut er aber auch darunter, in die Untertagewelt: weithin vergangen, wie die Dörfer im rheinischen Braunkohletagebau, die der Wahl-Aachener im Verschwinden noch skizziert: "der hof, das feld ist eine hirnregion, deren bewirtschaftung / sich nicht mehr lohnt". Immerhin noch für den Dichter. "wir lasen die landschaft wie bücher".
Wie ein Archäologe sucht Christoph Wenzel aber auch an Gegenständen die Gebräuche der Leute zu deuten. "Hinter der klappe am barschrank wohnte der geist in den flaschen", schildert er einen jener geselligen Abende aus den vielleicht noch immer nicht ganz vergangenen "zeiten des gelsenkirchener barock". Zwar wird hier mit der "aussetzung der bierdeckel aus dem tabernakel" ein schiefer Vergleich gezogen, denn ein Bierfilz kann ja allenfalls äußerlich einer Hostie ähneln. Im Barschrank aber einen Tabernakel zu sehen, passt schon eher und mag auch dafür stehen, dass Werteebenen schleichend verrutschen, etwas unauffälliger als im Braunkohlerevier "der boden unter den füßen".

 
Christoph Wenzel: lidschluss. Gedichte. 94 Seiten. Edition Korrespondenzen. Wien 2015. € 17,50.