Am Erker 71

Jan Kuhlbrodt: Kaiseralbum

 
Rezensionen
Jan Kuhlbrodt: Kaiseralbum
 

Kaiser, Chemnitz, Grottenolme
Lutz Graner

Das "Kaiseralbum" illustriert schwarz auf weiß, wie kunterbunt zeitgenössische Lyrik sein kann.

Lyrik? Derart vielfältig geht es in Jan Kuhlbrodts schmalem Bändchen zu, dass sicher mit Bedacht auf einen Gattungsbegriff auf Einband und Vorsatztitel verzichtet wurde. Nur im Impressum wird, ganz klein, verraten: "Gedichte". Auf dem eigentlichen Titelblatt werden "Choräle und Kantaten" angekündigt. Dass die Leserinnen und Leser aber eher ein fröhliches Neben- und Ineinander verschiedener Schreibweisen erwartet, wird schließlich mit dem ersten Text des Bandes klar: Er ist mit Fußnoten versehen. Bereits an der Form also ist zu erkennen, wie Kuhlbrodt arbeitet: Er verwebt Altes und Neues, greift auf tradierte Muster zurück, mag sich von ihnen aber nicht gänzlich binden lassen. So setzt er beispielsweise einen Sonettenkranz zum Auftakt, verzichtet aber auf rigide Reimzwänge, verschiebt lieber Reimpartner in die Versmitte, belässt es bei Assonanzen oder Wiederholungsfiguren. Bemerkenswerter als solche Modernisierungen, die einem in der zeitgenössischen Lyrik häufiger begegnen und schlicht ein frischeres poetisches Sprechen ermöglichen, sind die Fußnoten; mit ihnen wird etwa bis zur Hälfte des Buches gearbeitet. Mit der Entscheidung, sie überhaupt zu setzen, wird den Lesenden nachgerade aufgezwungen oder vielmehr geschickt abverlangt, die Gedichte so zu lesen, wie man Lyrik eben lesen sollte: langsam und wiederholend. Denn der Versuchung, den Verweisen nachzugehen, ist schwer zu widerstehen; und bei Kuhlbrodt können es schon einmal sechs Verweise in nur wenigen Versen sein. Notwendig wird so ein stetes Springen zwischen Haupt- und Fußnotentext, eine Lektüre der Verse mal mit, mal ohne Fußnoten. Durchaus anstrengend und doch ein geschickter Schachzug des Verfassers. Ausgehend von dieser strukturellen Entscheidung stürzt Kuhlbrodt sich mit Lust auf das breite Möglichkeitsspektrum ihrer Ausgestaltung. Und natürlich verwischt er die vermeintlichen Grenzen: Während der Dichter in den Versen ein lyrisches Ich verweigert, meldet es sich in den Fußnoten sehr wohl zu Wort: als Kommentator, Erklärer, ja Essayist, häufig zudem als Schelm. "Und so eine Fußnote kann ja auch so eine Art intellektueller Tagebucheintrag sein", heißt es an einer Stelle. Sie kann darüber hinaus stark an die Facebook-Kommentare erinnern, die sich zahlreich und regelmäßig auf dem Profil des Autors finden lassen. Geliefert werden jedenfalls Lektüretipps, Anekdoten, Reflexionen, Späße und vor allem die Verse kommentierendes Hintergrundwissen. Letzteres immer wieder mit augenzwinkernden Reminiszenzen an Wikipedia, die sogar auf die Verse zurückschlagen können, wie in dem Abschnitt "Nach Wikipedia: (Rezitativ)". Und im Grunde wird an den beschriebenen Sprechregistern auch in der zweiten Hälfte des Bandes festgehalten, wo auf das Setzen von Fußnoten jedoch verzichtet wird: Nun wird das Narrative verstärkt zum Prosagedicht, der Kommentar mitunter in Klammern gesetzt oder poetisch rhythmisiert ("Kamen, der Stein. Slawisches Wort.") - und natürlich darf sich das lyrische Ich nun im Haupttext entfalten.
Auch inhaltlich stellt das Kaiseralbum ein komplexes Flechtwerk vor. Ausgehend von Kaiser Friedrich II., der im 13. Jahrhundert hauptsächlich in Italien lebte, flicht Kuhlbrodt historische Momentaufnahme, philosophische Überlegung und biographische Station zu einem Gebinde, von wiederkehrenden Motiven durchwirkt: Tier (*) und Mensch, Stadtlandschaft und Natur, Herrscher und Beherrschte, Norden (Deutschland) und Süden (Italien), Osten (Slawen) und Westen (Frankreich). Insbesondere werden Rom, Frankfurt am Main, Chemnitz und Leipzig mit eigenständigen Texten bedacht.
Im Kaiseralbum arbeitet ein Dichter, durchaus spürbar, für sich, aber er arbeitet sich auch an sich ab. "Album", sagt Wikipedia, "lat.: albus weiß, weißes Blatt", ein solches, also unbeschrieben, bleiben nach der Lektüre weder Kaiser noch Kuhlbrodt. Zu Papier gebracht (*) hat der Autor, schwarz auf weiß, kunterbunte Denkanstöße, was im Übrigen auch für die Zeichnungen von Alexandra Sternin zutrifft, die in kleinen Details immer wieder über das rein Illustrative hinausgehen.

* Fußnote 1: Müsste für die jüngste deutsche Lyrik ein Wappentier gefunden werden, so gäbe es einen Kandidaten, der durch Jan Wagners Regentonnenvariationen tappt, geradezu ertappt wird auch in Heinrich Deterings Wundertiere und schließlich bei Jan Kuhlbrodt landet: der Grottenolm.

* Fußnote 2: "Zu Papier gebracht", ja, Vorversionen der hier versammelten Texte sind aber auch online zu finden.

 
Jan Kuhlbrodt: Kaiseralbum. Gedichte. Illustrationen von Alexandra Sternin. 112 Seiten. J. Frank. Berlin 2015. € 13,90.