Die Kunst der Andeutung
Frank Lingnau
"Erzählen, das lernt man hier wieder, heißt auslassen", schwärmte einst der Literaturkritiker Reinhard Baumgart über die Erzählungen Raymond Carvers. Nach der Neuausgabe seiner Werke Ende der 90er Jahre wirkte die minimalistische, lakonische Schreibweise des amerikanischen Schriftstellers, an der, wie wir heute wissen, sein Lektor mit seinen Streichungen und Straffungen wesentlichen Anteil hatte, stilbildend auf einige deutsche Autoren. So bekannte beispielsweise Ingo Schulze, ein Bewunderer des Stilkonzepts Carvers zu sein. In der Tradition dieser amerikanischen Prosa stehen auch die Geschichten, die Marion Gay nunmehr unter dem Titel Romy Schneider starb kurz vor Haarlem veröffentlichte. Auch die meisten ihrer 33 Texte, die selten länger als zwei, drei Seiten sind, zeichnen sich durch einen schnörkellosen Stil, den Verzicht auf Psychologisierung und Leerstellen aus.
Fast immer deutet sich schon in den ersten knappen Sätzen der Kurzprosa der in Hamm und Ellsworth/Maine lebenden Autorin an, dass menschliche Beziehungen und deren Abgründe ein zentrales Motiv bilden. "Annalena kannte ich aus der Schule. Ich hatte neben ihr gesessen, bis ihre Mutter meinte, wir würden uns nicht gut tun. Ich war ein bisschen beleidigt, erst, aber als sie mich zum Geburtstag einlud, war es wieder in Ordnung. Rollschuhe sollten wir mitbringen, stand auf der Karte. Ich hatte keine." So beginnt die Kurzgeschichte "Kindergeburtstag", in der Marion Gay von einem Mädchen erzählt, das bei einem Kindergeburtstag Zeuge eines Unfalls wird. Als es später, allein zu Hause, seine Mutter anruft und von den für sie schrecklichen Bildern berichtet, erkennt diese die Verzweiflung ihrer Tochter nicht und beginnt zu lachen. Wo sich die Mutter befindet, wird mit nur einem Satz angedeutet: "Musik, Gelächter, meine Mutter hat getrunken." Mit ihrer fein austarierten Erzählökonomie verrät die Autorin kein Wort zu viel, gleichwohl erhält die Verlassenheit und Verlorenheit des Mädchens klare Konturen. Die letzten Sätze lauten: "Als ich ins Bett gehe, lasse ich das Licht brennen, überall. Egal, ob meine Mutter schimpft, morgen."
Marion Gays ergreifende, böse-beklemmende oder groteske Geschichten erzählen von vernachlässigten und gepeinigten Kindern, von gewalttätigen Männern und einsamen Frauen, von verwirrten Katzenliebhabern und einem verstörten Kontrabassisten. Ein Stipendium in der Niederlausitz bricht der Musiker ab und versteckt sich in seiner Wohnung, um seine Freundin, die ihm zu dem Aufenthalt geraten hatte, nicht zu enttäuschen. Als sie zum Blumengießen erscheint, verschiebt sich die Geschichte zunehmend ins Groteske: Ein Schrank wird schließlich zum Sarg. Tragische Abstürze werden bei Marion Gay zu banalen Unvermeidlichkeiten. |