Gezeichnetes Gelände
Rolf Birkholz
Gottvergess und guter Heinrich, Augentrost und Odermennig, Melde, Eisenkraut und Winterlieb - an diese und viel mehr Kräuter und Blümlein wird man erinnert oder wird auf sie überhaupt erst aufmerksam gemacht in Esther Kinskys Gedichtband Naturschutzgebiet. Die Übersetzerin, Romanautorin und Lyrikerin (Banatsko, Aufbruch nach Patagonien) beobachtet diese Pflanzen in verschiedenen Wandlungsphasen: im Jahreszyklus von Frühling zu Frühling sowie angesichts einer Rodungsmaßnahme. Sie sieht die Flora im natürlichen Umfeld und dieses zugleich sich verändern, schwinden. Sie nennt es ein "gezeichnetes gelände", ein "gestörtes gelände". Dabei handelt es sich um ein halb verwildertes Teilareal der einst bekannten Berliner Kinder-Orthopädie-Klinik Oskar-Helene-Heim, das für Neubauten vorbereitet werden soll. Esther Kinsky hat dort noch einmal auf die (Heil-) Pflanzenwelt geschaut und auch fotografiert; die Aufnahmen bilden ein eigenes Kapitel des gediegenen Büchleins. Die Autorin blickt weder romantisierend noch rein wissenschaftlich auf ihre Objekte. Sie stellt nur dar und stellt Fragen zwischen Wildnis und Kahlschlag, Nutzen und dem Zweck puren Daseins. "Gebrauchsanweisung/ für eine wildnis: da liegt sie/ klein und von schöllkraut/ gesäumt ein flacher / helldunkler streifen/ unbeherrscht denn was / heißt das schon/ wild?" "Dahingemacht das/ sonicht /gewollte", wird festgestellt, dann begegnet man auch "unerwarteter wirtlichkeit". Oder im Winter: "Der schlaf der kleinen dinge vor uns hingebreitet". Es liegt nahe, die Versschreibweise pflanzenwuchsgleich zu nennen, augenscheinlich ungezähmt und natürlich doch einem Formprinzip folgend; manchmal tauchen etwas altertümliche Wörter wie flüglicht oder mausicht auf. Zum Schluss heißt es mehrdeutig: "und mit blick/ über den kahlschlag dies alles ist nichts/ nichts als die erinnerung/ an die unsterblichkeit". Das klingt so wehmütig wie zuversichtlich. Natürlich hat die Natur den längeren Atem. Aber die Verschnaufpause in diesem Schutzgebiet zwischen zwei Buchdeckeln bringt sie uns näher. |