Am Erker 67

Wenzel Storch: 'Die Filme'

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Wenzel Storch
Martin Schmitz Verlag

 
Rezensionen
Wenzel Storch: Die Filme
 

Vom Liebesgrund zum Sommer der Liebe
Andreas Heckmann

Woher mochte es rühren, dass ich mich in Marburg sofort beheimatet fühlte, als ich Mitte Oktober 1984 dorthin zum Studieren kam, eine Woche bevor Oskar Werner - mein Liebling aus Jules und Jim - dort auf einer Theater-Tournee im Europäischen Hof starb? Sicher, die puppenstubenhafte Oberstadt, bekrönt von einem stattlichen gotischen Schloss, das gründerzeitliche Südviertel, all die Hanglagen und Ausblicke faszinierten mich. Die Stadt war alt und doch voller Studenten, und die Zeit war auf meiner Seite. Aber erklärt das meine innige Sympathie für Oberhessen?
Als ich vor einigen Jahren meine nun 85-jährige Tante in Hildesheim besuchte, drängte sich mir eine ganz andere Vermutung auf. Seit dem Tod meiner Großmutter 1985 war ich nicht mehr dort gewesen. Nun saßen wir an der Godehardi-Kirche, einer romanischen Basilika im einzigen unzerstörten Fachwerkviertelchen der Ende März 1945 in Schutt und Asche gebombten Altstadt. Der Tag war warm, der Blick glitt zum Weinberg hinüber und zum Kehrwiederwall, und plötzlich war mir klar, dass ich in Marburg dem Ort wiederbegegnet war, der mich als kleines Kind als erster gelehrt hatte, dass es mehr als nur flaches Land, Deiche und Entwässerungszüge gibt, mehr als nur Wiesen, Moore und die legendären Oldenburger Hundehütten. In Hildesheims Süden beginnt das Mittelgebirge, das sanfte, bewaldete Auf und Ab mit seiner so viel sichtbarer tief in die Vergangenheit zurückreichenden Geschichte. In Hildesheim begann das Geheimnis, dem der große Wanderer, Gelehrte und Phantast Hans Jürgen von der Wense jahrzehntelang auf ausgedehnten Streifzügen nachspürte.
Liebend gern bin ich in den späten 60er und frühen 70er Jahren in Hildesheim gewesen, bei meiner Großmutter, die den Enkel in ihrer kleinen Caritas-Wohnung in einer Straße namens Wohl beherbergte, mit ihm die wenigen Schritte hinauf zur ottonischen Michaeliskirche ging (seit 1985 Weltkulturerbe) und dann wieder hinunter in den Liebesgrund, dem zu einem Park umgestalteten ehemaligen Stadtgraben, und jeden Sonntag zum Hochamt mit dem Bischof - einem leibhaftigen katholischen Bischof! - in den Dom mit seiner Bernwardstür aus Bronze und dem tausendjährigen Rosenstock im Kreuzgang. Wo ich am Oldenburger Stadtrand aufgewachsen bin, da heißen die Straßen Iltisweg, Marderweg, Dachsweg, Ahlkenweg, in Hildesheim dagegen hießen sie Wohl und Am Kehrwieder, und es gab einen Galgenberg. Es war ein ganz anderes Dasein. Und meine Großmutter kochte mir jede Menge Spaghetti mit Tomatensauce und Schlesische Klöße. Selige Zeiten. Verzauberte Welt. Rabattmarken von Wasmund am Huckup.
Dass ich Geschichte studiert und mich viele Jahre nicht aus der oberhessischen Idylle befreit habe, rührt wie meine literarischen Vorlieben und meine unerschütterliche Wertschätzung der Provinz sicher auch von diesen kindlichen Prägungen her, die in mir auf ein nur zu empfängliches Gemüt trafen, während andere der Straßenname Kehrwieder womöglich kalt lässt.
Warum all diese Reminiszenzen, da ich doch angetreten bin, Wenzel Storch. Die Filme zu besprechen? Nun, Storch ist Hildesheimer und nur einen Tick älter als ich. Wir waren zur gleichen Zeit dort Kind, er Vollzeit, ich besuchsweise. Und während er aus einer streng katholischen Familie stammt und allen Budenzauber mitgemacht hat, bin ich zwar katholisch getauft, kommuniert und gefirmt, aber im stockevangelischen Oldenburg fast ohne römische Prägung aufgewachsen. Wie gut, dass ich wenigstens eine Hildesheimer Großmutter hatte.
Während ich dann in den 80ern Literaturwissenschaft studierte, mich sehr beflissen um die abendländische Hochkultur bemühte und die popkulturellen Sumpfblüten meiner Gegenwart nicht einmal ignorierte, wohnte Wenzel Storch - wie sich im Buch sehr schön und mit wunderbaren Fotos illustriert nachlesen lässt - mit Diet und Iko Schütte in einem heruntergekommenen Haus im Fahrenheitviertel, einem sozialen Brennpunkt, wie es sie heute in den aufgehübschten deutschen Städten allenfalls noch kurzzeitig an der Peripherie geben mag. Dort hausten sie für fast umsonst, machten Kunst, bespielten Kassetten mit seltsamer Musik und vertickten sie zum Selbstkostenpreis, lasen sich durch die Bestände der Stadtbibliothek, arrangierten sich mit dem Alkoholikerhaufen vom Kiosk unten, ertrugen stoisch die Vermüllung ringsum und trugen bisweilen gewiss selbst dazu bei. Und mitunter kam per Post aus New York die neue "Raw": Wenzel Storch hat Art Spiegelmans Maus schon in Fahrenheit gelesen, als sie gerade erst als Fortsetzungscomic erschien.
Dann gingen die 80er zu Ende, die Mauer fiel (von mir in Freiburg nicht einmal ignoriert), und Wenzel Storch vollendete mit Freunden und Bekannten und fast ohne Geld seinen ersten Film, den Acid-Messdienertraum Der Glanz dieser Tage, in dem der Lkw-Fahrer Jürgen Höhne den Werdenden Priester und Wenzel Storch den Gottsucher spielt, der in quietschbunten Klamotten hockenden Gangs auf dem Hildesheimer Schützenfest den Herrn sucht und dafür fast Prügel bezieht. Vom Sperrmüll kamen Deko und Klamotten, abgezogene Matratzen wurden zu Kleidern umgearbeitet, sakrale Räume aus den irrsinnigsten Versatzstücken arrangiert, und heraus kam ein großer Film, für mich sogar der beste von Storch, eine Messdiener-Rhapsodie, die leider weit unbekannter ist als sein Hippie-Opus Sommer der Liebe (1992) mit Jürgen Höhne als Oleander, der Klosterschreck, und seine Reise ins Glück (2004) mit Höhne als Kapitän Gustav.
Über all diese Filme, über sein von der Gegenwart abgekoppeltes Leben in Fahrenheit und über seine hochkatholischen Kindheitsprägungen, deren skurrile Lesefrüchte jahrelang in konkret-Kolumnen zu bestaunen waren und bei Ventil als Buch erschienen sind (besprochen in Am Erker 66), berichtet Wenzel Storch ausführlich in diesem schönen Band, an dem sich allenfalls monieren lässt, dass manches Foto vielleicht entbehrlich gewesen wäre, um anderen Bildern mehr Platz zu geben, die, obwohl sehr reizvoll, gelegentlich kaum mehr als passfotogroß sind.
Den eigenwilligen Filmemacher Storch als den bedeutenden Künstler bekannter zu machen, der er ist, dazu trägt dieses Buch hoffentlich bei. Und im Herbst gibt es den Theatermann Storch zu erleben, im Ruhrgebiet. Man darf gespannt sein und sollte hinfahren.

 
Wenzel Storch: Die Filme. 335 Seiten. Martin Schmitz. Berlin 2013. € 29,80.