Küsse und Kaiserschmarrn
Laura Rehme
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es den Maggi-Brühwürfel, und von etwa 1900 bis 1940 flogen Zeppeline. Beide Erfindungen spielen in Karla Schneiders neuem Roman Tova und die Sache mit der Liebe eine kleine Rolle. Genauer allerdings lässt sich die Zeit kaum bestimmen, in der Tova, die Heldin mit der Löwenmähne, lebt, präsentiert sie sich doch als eine bunte Mischung aus verlockendem Jahrmarkttreiben, verheißungsvoll im Mondlicht glitzernden Schlössern, wilden Kutschfahrten und einer zugleich überraschend modernen Gesellschaft. Es ist eine Epoche der wachsenden Städte und Handelsviertel, zugleich eine der Gaukler, Paläste und Prinzen. Letzteren trifft Tova tatsächlich ganz unerwartet am Bahnhof ihrer Stadt. Zugegeben, diese Idee ist weder originell noch realistisch. Meiner Erfahrung nach sind Prinzen am Bahnhof jedenfalls nicht zu finden. Sie machen sich rar. Hier hat Tova mit ihrer auffallend roten Mähne einen großen Vorteil, denn die Haare begeistern den Prinzen mit dem wohlklingend-aristokratischen Namen Borries von Cronstetten-Branis so sehr, dass er die schöne Unbekannte wiedersehen möchte. Beim gemeinsamen und natürlich geheimen Treffen in der Unterstadt, wo die ärmere Bevölkerung lebt, wird bei Kaiserschmarrn im "Alpenglühen" die Zuneigung gefestigt und die Identität klargestellt. So weit, so gut. Die Idee ist, wie gesagt, nicht ungewöhnlich, enthält aber alle notwendigen Elemente eines Jugend-Liebesromans: Freches Mädchen aus der Unterstadt begeistert charmant-frechen Jungen (hier: Idealfall, nämlich Prinz) mit seiner Natürlichkeit. Die für Jugendromanzen so typische "Verwirrung", der Moment, wenn einer der Liebenden den anderen bei vermeintlich Bösem ertappt, bleibt einem allerdings erspart. Diese Vermeidung von Klischees ist ungewöhnlich für das Genre, aber typisch Karla Schneider. Die ganze Handlung des Romans ist erfrischend undramatisch. Das ändert sich auch nicht entscheidend dadurch, dass Schneider ein bisschen Abenteuer hinzufügt. Mitten in das Jahrmarkttreiben der Belle Époque platziert sie ein phantastisches Element, das "Lebende Buch". Dieses Buch, das unter strengster Bewachung im Schloss aufbewahrt wird und mehr oder weniger das Zentrum der Geschichte bildet, ist in etwa mit einem Tablet vergleichbar. Eine glatte silbrige Oberfläche, auf der auf Knopfdruck bewegte Bilder oder Texte erscheinen. Die Wirkung des magischen Gegenstandes ist fatal: Er fesselt den Leser und entführt ihn in Welten, aus denen er aus eigener Kraft nicht mehr zurückfindet. Dabei ist das Lebende Buch aber keineswegs dämonisch, es erzählt einfach nur unglaublich gute Geschichten. Zum Beispiel die Reise in den Norden von Karla Schneider. Immer wieder sind es solche liebevoll-selbstironischen Details, die einen beim Lesen schmunzeln lassen und die zusammen mit der klaren, unprätentiösen, aber bildstarken Sprache den besonderen Ton der Geschichte ausmachen. Ein bisschen Räuberpistole und Kolportage, ein bisschen Verliebtsein. Was ist denn nun der Roman? Eine reine Liebesgeschichte, wie der Titel verspricht, ist es nicht. So schön die unpathetische Erzählweise Schneiders ist, es fehlt der Romanze der Biss, die Spannung und Unsicherheit einer ersten großen Liebe. Man hält Händchen, himmelt sich an, besteht Abenteuer und küsst sich - aber bei all dem muss man als Leser nicht einmal den Atem anhalten, spürt man keine prickelnde Romantik. Das liegt vor allem daran, dass die männlichen Protagonisten im Vergleich zu den weiblichen Charakteren eher blass und farblos bleiben. Während Tova, ihre kleine Schwester Elseline und die Mutter frisch und unkonventionell erscheinen, werden die Männer eher lustlos charakterisiert. Da sind der schrullige Opa, der heimlich Diamanten produziert, der gutmütige Bruder Gösta, der außer seiner Leidenschaft für Bücher und Lakritz eigentlich keine weitere Eigenschaft hat, und natürlich der Prinz, das "Großmaul" mit den dunklen Locken und dem frechen Lachen, der unpersönliche Geschenke hasst. Dass die Männerfiguren so unscheinbar wirken, ist ungewöhnlich, da Karla Schneider es durchaus versteht, auch mit minimalen Mitteln (Gesten, kleinen Details in der Beschreibung der Figuren) plastische Bilder vor dem inneren Auge entstehen zu lassen. So zum Beispiel bei einer meiner Lieblingsfiguren des Romans, Frau Konnower. Die haust in ihrem Laden zusammen mit ihrem Sprössling wie eine Spinne in ihrem Netz in einer der düsteren Gassen der Unterstadt. Beschrieben nur durch das stete Beben ihrer feuchten Unterlippe, von der jeden Moment der Geifer zu tropfen scheint, wird sie zu einer Gestalt, die etwa einer von Dickens' dunklen Charakteren in Düsternis nicht nachsteht. Die wahre Qualität des Buches liegt daher kaum in der Originalität der Handlung, sondern vielmehr in der Erzählweise. Denn egal ob Abenteuer- oder Liebesgeschichte, wenn Karla Schneider etwas kann, dann ist es erzählen. Das wird deutlich etwa bei der Beschreibung eines Stadtviertels wie Vaskermoelen, wo Gefahr und Vergnügen in der Luft liegen, wo die Atmosphäre so dicht ist, dass man meint, den Geruch des Kaiserschmarrns aus dem "Alpenglühen" zu riechen und die Blicke der Händler auf der Haut zu spüren, während man sich, von Körben und Ellenbogen gestreift, durch die Menge drängt. Noch mehr aber zeigt es sich an den unvergesslichen Kinderfiguren, wie sie außer Astrid Lindgren nur Karla Schneider zum Leben erwecken kann. Wer das Buch aufschlägt und eine Liebesgeschichte erwartet, wird möglicherweise enttäuscht werden. Wer jedoch ein Freund großer Erzählkunst ist, der sei gewarnt: Dieses Buch lebt.
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