Am Erker 67

Martin Lechner: 'Kleine Kassa'

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Martin Lechner
Residenz Verlag

 
Rezensionen
Martin Lechner: Kleine Kassa
 

Furios
Joachim Feldmann

Wer in den letzten Monaten die Feuilletons der überregionalen Presse verfolgte, konnte den Eindruck gewinnen, dass es sich bei der jüngeren deutschen Erzählliteratur vor allem um ödeste Oberschülerprosa handle. Wie gut, denkt sich da der Bücherfreund, dem nichts so unangenehm ist, wie sich bei der Lektüre zu langweilen, dass man all diese angeblichen Arztsohn- und Professorentochter-Romane ignorieren und stattdessen mit Martin Lechners Debüt Kleine Kassa einige wunderbare Lesestunden zubringen darf. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob der 1974 geborene Lechner seine ersten Schritte auf dem Parkettfußboden eines Akademikerhaushalts oder auf der Auslegeware in der Wohnung eines Fachhandelspackers und einer Fleischwarenfachverkäuferin tat. Wichtig ist eher, dass er offenbar sowohl Kafka als auch Robert Walser gelesen hat und sich im Fächerkanon der Berufsschule für Kaufleute im Einzelhandel auskennt. Wann nämlich hat man zuletzt in einem deutschsprachigen Roman von Rechnungswesen und Warenverkaufskunde gelesen? Und wo, außerhalb des literarischen Kosmos der beiden oben genannten Gewährsleute, ist man jemals einem Helden wie Georg Röhrs begegnet?
Falsch wäre es allerdings, nun pfeilgerade zu schließen, Martin Lechners Prosa begnüge sich mit der Rolle des Adepten. Er hat einen ganz eigenen Stil gefunden, der sich vor allem durch die Fähigkeit auszeichnet, lange und komplizierte Satzgefüge heil an ein gutes Ende zu führen. Wie es ihm gelingt, mithilfe dieser syntaktischen Kunststücke, den geistigen Zustand seines Protagonisten trefflich zu spiegeln, sei hier an einem Beispiel demonstriert, in dem auch der bereits erwähnte Berufsschulstoff vorkommt: "Lustlos klappte er die Küchenbank auf und begann sich lahm durch die Berufsschulunterlagen des letzten Jahres zu graben, schob zerknickte Notizen beiseite, die Unterlagen zur Verkaufsgesprächsführung, den Schnellhefter mit diesem rasend öden Rechnungswesenkäse und sogar noch eins jener Hefte mit logischen Rätseln, mit denen er eine Zeit lang versucht hatte, seinen Verstand zu trainieren, ein aussichtsloser Versuch, da inmitten der vertrackten Übungen auch Bilder eingebettet waren, die einem mit prall hervorquellenden, melonengroßen und wie poliert glänzenden Brüsten den eben widerwillig in Gang gesetzten Verstand gleich wieder vollends verwirrten."
Dass Georg sich kurze Zeit später in eben dieser Eckbank verstecken muss, ist der aberwitzigen Handlung des Romans geschuldet, die man ganz knapp oder auch sehr ausführlich referieren kann, wobei letztere Variante ein geradezu verwegenes Unterfangen darstellte. Also kurz und knapp: Georg Röhrs, Schulabgänger mit miserablem Zeugnis, befindet sich seit einem Jahr in der Ausbildung zum Kaufmann im Einzelhandel. Sein Lehrherr ist der patriarchalische Oskar Spick, als Inhaber einer Eisenwarenhandlung der geborene Feind der entsprechenden Abteilung mit Kaufhaus. (Man erkennt, die Gefährdung des stationären Einzelhandels durch das Einkaufsangebot im weltweiten Netz spielt hier noch keine Rolle.) Regelmäßig muss Georg im Auftrag seines Chefs einen Geldkoffer bei einem Herrn Kraus abgeben, dessen "kleine Kassa" als sicherer Aufbewahrungsort für die nicht unbeträchtliche Summe von dubioser Herkunft gilt. Das geht gut, bis der Lehrling eines Tages meint, an einer Haltestelle ein Plakat mit dem Bild "seiner Marlies", deren Rolle wir hier unkommentiert lassen, zu entdecken. In letzter Sekunde springt er aus dem Bus, nur um festzustellen, dass er sich getäuscht hat. Und dann ist es auch schon zu spät, die Türen schließen sich, der Bus ist weg. Dass Georg nun losrennt und über eine Leiche stolpert, ist nur der Beginn einer Odyssee, die ihn - das darf verraten werden - am Ende wieder zu der fatalen Haltestelle zurückführt.
Georg Röhrs, so viel dürfte klar sein, ist kein Verstandesriese. Aber er hat Träume. Mit seiner Marlies möchte er raus aus der Provinz, in ein Hotel am Meer, und zwar nicht als kaufmännischer Lehrling im Pauschalurlaub, sondern als Liftboy. Dass er sich andererseits in die Gruselwelt seiner "Schocker" flüchtet, mag mitverantwortlich für all die alptraumhaften Abenteuer sein, die Martin Lechner für ihn bereithält. Und die uns Lesern ein großes, wenn auch gelegentlich schmerzhaftes, Vergnügen bereiten.

 

Martin Lechner: Kleine Kassa. Roman. 260 Seiten. Residenz. St. Pölten 2014. € 12,90.