Aus der Routine geworfen
Katharina Peralta
Stellen Sie sich vor, Sie laufen abends durch die Straßen, es ist bereits dunkel, und Sie können in die Fenster der Häuser sehen. Für einen kurzen Augenblick erhalten Sie Einblick in das Leben von fremden Menschen. Was sie im Fernsehen schauen, ob sie zu Abend essen, ob sie sich gerade streiten oder lieben. Oder wollten Sie nicht schon immer wissen, was Ihre Arbeitskollegen tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen? Was hinter den geschlossenen Rollläden Ihrer Nachbarn geschieht?
In Markus Orths' neuem Roman Die Tarnkappe geht es um ein mysteriöses Kleidungsstück, das seinen Besitzer unsichtbar macht. Dies ist jedoch noch nicht alles. Der Träger einer solchen Kappe verliert sich selbst, bis hin zur völligen Übernahme seiner Persönlichkeit und seines Ichs durch die Tarnkappe.
Wer nun einen Science-Fiction-Roman im Stile von H.G. Wells' Der Unsichtbare erwartet, täuscht sich. Das liegt vor allem an der Hauptfigur Simon Bloch. Bloch ist der gewöhnlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Er ist so gewöhnlich, dass er schon langweilig wirkt. Dabei hatte er wirklich Potential, spielte abends in Kneipen am Klavier, war kreativ, träumte von der großen Bühne und vom großen Erfolg. Bis er eines Abends feststellt, dass dies zu nichts führt, und er sich einen Bürojob zulegte. Nun faltet er also jeden Morgen sorgsam die verschiedenen Teile der Zeitung in akkurate Vierecke, groß genug, um in der Innentasche seines Jacketts Platz zu finden. Er steht um die gleiche Zeit auf, trinkt einen Kaffee, fährt mit dem gleichen Bus und beantwortet Kundenbeschwerden mit den immer gleichen Worten. Jeden Sonntag geht er spazieren, auf dem genau gleichen Weg, durch den genau gleichen Wald, um die genau gleiche Zeit. Simon Bloch ist ein Mensch, der von der Routine lebt. Und genau eben diese Routine nimmt absurde Züge an. Plötzlich ist man sich beim Lesen nicht mehr sicher, ob man das nun ungemein langweilig oder ungemein spannend finden soll. Ohne diese Routine ist Simon jedoch völlig verloren.
Und dann plötzlich gerät sein Leben aus der Bahn. Dabei tut Simon nur einmal nicht das, was er sonst tun würde. Er nimmt einen späteren Bus, um einem Obdachlosen Geld zu geben. Ohne Simon anzuschauen, bedankt sich der Obdachlose, was wiederum Simon gar nicht schmeckt - also spricht er diesen darauf an. Der Bettler entpuppt sich als sein alter Schulfreund Gregor. Und so fangen die Probleme an. Gregor übergibt Simon einen Koffer, in dem sich die besagte Tarnkappe findet. Und diese ergreift schon bald in einem Maße Besitz von ihm, dass er zunächst seinen Verstand und dann sich selbst verliert.
Sich durch die Mengen bewegen, ohne gesehen, beurteilt oder verurteilt zu werden, einfach frei sein. Markus Orths greift Bedürfnisse auf, wie sie in vielen Menschen schlummern. Auch unsere Neugier, der Wunsch, alles über Menschen, ihre tiefsten Wünsche und Geheimnisse, zu erfahren, findet in einer Figur wie Simon Bloch ihren Ausdruck. Die Idee an sich spricht an, dennoch ist die Erzählweise gewöhnungsbedürftig. Es ist unfassbar, wie viele Wörter sich auf 223 Seiten tummeln können. Doch es ist schwierig, das Buch einfach wegzulegen. Man möchte wissen, wie es weitergeht, was passiert und vor allem, wie Simon sich verhält. Simon erfährt durch die Tarnkappe von Dingen, die einem ansonsten verborgen bleiben würden. Man hofft also darauf, durch das Weiterlesen mehr zu erfahren und so immer tiefer in dieses Wissen einzutauchen. Die Tarnkappe ist definitiv kein Buch für zwischendurch, sondern zwingt zur Auseinandersetzung. Auch ein Happy End bleibt uns versagt. Dafür gelingt Markus Orth etwas, das viele Autoren vergeblich versuchen. Die Tarnkappe ist ein Buch, dessen Wirkung auch noch lange nach der Lektüre anhält. |