Am Erker 62

Monica Cantieni: Grünschnabel

Links:

Schöffling
Monica Cantieni

 
Rezensionen
Monica Cantieni: Grünschnabel
 

Tagesangebot
Michael Harde

Adoptieren ist wie Einkaufen bei Thomas Philipps. Die Mädchen mit leichten Schäden - kurzsichtig, kleinwüchsig, keck – sind deutlich billiger. Die gehen weg für 365 Franken das Stück. So ein Sonderangebot macht Secondhand-Kinderwünsche auch für Familien interessant, die sonst nicht in den Genuss einer Adoption kommen. Natürlich muss man auf beiden Seiten akzeptieren, dass es für den bescheidenen Preis nur zweite Ware gibt, die auch schon ein wenig über das Verfallsdatum im Kinderheim geparkt war. Aber Losers Can't Be Choosers heißt es auf Englisch, und wer als kinderloses Paar an der Armutsgrenze so einen Grünschnabel beinah geschenkt bekommt, muss zugreifen und hoffen, dass sich die Mischpoke aus dem Mehrfamilienhaus mit der Kleinen arrangieren wird. Wenn nicht, was soll's ... – man ist Streit gewöhnt in den Behausungen des Prekariats, und die meisten Flüche und Schreiereien versteht ohnehin kein Mensch, wer kann schon unterscheiden, ob das Arabisch ist oder Spanisch oder zu viel Alkohol.
Politisch unkorrekt wie hier eingeleitet, erzählt auch Monica Cantienis erster Roman die Geschichte dieses Mädchens, dieses neunmalklugen Großmauls und schlagkräftigen Görs, das die Multikulti-Zwangsgemeinschaft aufmischt, auf links dreht und schlichtweg aus der Fassung bringt.
Aus der dreisten und keineswegs warmherzigen Perspektive des Kindes wird die Welt der Verwirrten, Verarmten, Verfolgten, aber immer wieder auch Vergnügten gezeigt, ohne dass Cantieni in eine peinliche Lobhudelei auf kindliche Sichtweisen verfällt. Die Autorin versteht es, ihrer kleinen Krawallmacherin eine Stimme zu geben, die weder zu rosarot-zuckersüßen Bullerbü-Traumwelten noch zur Heile-heile-Gänschen-Wortwahl neigt. In Nullkommanix hat der Grünschnabel das Haus erobert, jeden Winkel durchstöbert, alle Geheimnisse herumtrompetet, ohne sie recht zu verstehen, und in der Schule einen Standpunkt gegen Außenseiter-Mobbing verdeutlicht – "ich hatte ihr ein Koma in den Kopf geschlagen" –, den eine andere Schülerin lange nicht überwand.
Natürlich ist nicht alles hart und böse. Es gibt die Freundin im Schrank und den herzensguten adoptierten Großvater, aber auch diese beiden haben ihr Päckchen zu tragen, denn Cantienis Grünschnabel ist ein derber Roman vom Leben, wie es kommt, wenn man für 365 Franken den Besitzer wechselt und in eine Welt geschubst wird, in der "billig" kein Verkaufsargument, sondern eine Zustandsbeschreibung ist.

 
Monica Cantieni: Grünschnabel. Roman. 240 Seiten. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2011. € 19,95.