Er und sein Biograph
Manfred Benz
Der große Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee ist tot. Seine Memoiren, die er mit Der Junge und Die jungen Jahre begonnen hatte, sind unvollendet geblieben. Mr. Vincent, ein junger Wissenschaftler, will eine "ernstgemeinte Biographie" über Coetzees Jahre zwischen 1971/72 und 1977 schreiben. In dieser Periode musste Coetzee sich noch "als Schriftsteller etablieren". Dem Biographen stehen für sein Vorhaben nachgelassene Briefe, Tagebücher und Notizbücher zur Verfügung. Außerdem zeichnet er Interviews mit fünf Personen auf, die Coetzee damals gekannt haben.
Dies ist die Ausgangssituation der Fiktion, die der - noch lebende - Autor J. M. Coetzee jetzt unter dem Titel Sommer des Lebens veröffentlicht hat. Sie erschließt sich aber erst, wenn man das Buch mehrmals liest. Mr. Vincent, der Coetzee weder "persönlich" gekannt hat, noch von ihm "autorisiert" wurde, war seiner Aufgabe scheinbar nicht gewachsen: Im vorliegenden Buch sind Auszüge aus Coetzees Notizbüchern der Jahre 1972-77 abgedruckt, fünf teilweise überarbeitete Interviewabschriften, schließlich noch weitere undatierte Fragmente. Eine Biographie ist das nicht, ein Roman auch nicht, eher ein Portfolio, das disparates Material enthält und den Leser verwirrt.
Will der Leser dem Fleisch-und-Blut-Autor Coetzee nicht unterstellen, dass er im fortgeschrittenen Alter nicht mehr flüssig erzählen kann, muss er davon ausgehen, dass er - oder sein Biograph - dieses Werk genau so schreiben wollte. Schon Elisabeth Costello, seine Nobelpreisrede "Er und sein Mann" und zuletzt Tagebuch eines schlimmen Jahres zeigten, wie skrupulös - und augenzwinkernd - Coetzee immer wieder den Limbus zwischen Realität und Fiktion auszuloten versteht. Das Ganze ist keineswegs misslungen, sondern geradezu ein Meisterstück autobiographischer Fiktionalität oder narrativer Autobiographik.
"Ich sage, was ich meine", ließ ein anderer von Coetzees Erzählern Elisabeth Costello sagen. "Ich bin eine alte Frau. Ich habe keine Zeit mehr, zu sagen, was ich nicht meine." Coetzee aber schreibt nicht einfach, was er meint, sondern erfindet Personen, die manchmal sagen, was sie meinen, manchmal auch nicht. Ganz sicher sagen sie nicht immer die Wahrheit, weder über Coetzee noch über sich selbst. Trotzdem blitzt sie immer wieder auf: "Öffnen Sie Ihr Herz und hören Sie darauf, was Ihr Herz sagt." Coetzees Werk gleicht einem Vexierspiel, einem literarischen Spiegelkabinett: "J. C." ist tot, aber seine Leser leben und können ihr Leben vielleicht noch ändern.
In einem luziden Essay war Coetzee einmal der Frage nachgegangen, wie in "weltlichen Beichten, erdichtet und autobiographisch, ihre Verfasser sich dem Problem stellen oder ihm ausweichen, wie man die Wahrheit über sich selbst kennen kann, ohne sich selbst zu täuschen, und wie man die Beichte enden lässt." Die Antwort darauf könnte lauten: Man kann die Wahrheit über sich selbst nicht erkennen. Jede Form ihrer (auto-)biographischen Erforschung führt zu einem unendlichen Regress und bleibt deshalb unvollständig. Das muss aber keinen daran hindern, ständig weitere Geschichten zu erfinden. Vielleicht stimmt am Ende ja doch, dass ein Autor in seinem Werk lebt, selbst wenn er schon gestorben ist. |