Schönheit und Vergänglichkeit
Martina Kirchhof
Auf die Leser des neuen Romans von Michael Cunningham wartet eines der ganz großen Themen der Literatur: die Midlife Crisis. Kann es dem Autor gelingen, aus diesem klassischen, fast abgegriffenen Thema noch neue Funken zu schlagen? Hat er uns etwas zu erzählen, das wir so oder ähnlich noch nicht gelesen haben?
Zunächst überrascht das Setting, scheint die Hauptfigur doch keineswegs in einem festgefahrenen, bürgerlich-totorganisierten Leben zu stecken, dem ein Schuss Abenteurertum und Würze fehlt. Der Galerist Peter Harris, ein Mittvierziger, und seine Frau Rebecca leben in einem großen Loft mitten in Manhattan, sie pflegen ein reges and anregendes gesellschaftliches Leben, ihre Ehe ist nicht schlecht, das Sexualleben noch nicht eingeschlafen, obwohl sie sich inzwischen nur allzu gut kennen, bis in kleinste Verästelungen hinein. Die gemeinsame Tochter Bea steht auf eigenen Füßen, wenn auch nicht in dem von den Eltern erhofften Beruf. Peter und Rebecca gehören eindeutig zu den 'happy few'.
Wo soll hier ein Ansatzpunkt für eine Krise zu finden sein? Eine neue Liebe? Cunningham wählt tatsächlich diesen klassischen Katalysator, aber anders als erwartet. Der multi-talentierte, aber völlig orientierungslose und drogenabhängige jüngere Bruder Rebeccas lässt eine neue Konstellation entstehen, als er für eine gewisse Zeit in das Loft der beiden zieht. Missy ist jung, er ist schön, er ist kapriziös und provozierend losgelöst. Peter verliebt sich in ihn, ohne sich dies einzugestehen. Erst sehr spät im Roman kommt es zu einem Kuss zwischen den beiden; bezeichnenderweise stehen sie dabei in einem See - eine klare Anspielung auf die Novelle Tod in Venedig, geht es doch auch an anderen Stellen im Roman um Thomas Mann. Mit dem Kuss ist Peter Harris endgültig aus seinem alten Leben katapultiert, "ein schreckliches, berauschend giftiges Gefühl" steigt in ihm hoch, er ist entschlossen, alles aufzugeben, möchte mit Missy ein ganz neues, ganz anderes Leben beginnen, obwohl er weiß, dass er Rebecca und Bea Schreckliches damit antut. "Er wird sich nie wieder für einen guten Menschen halten können", lautet seine Erkenntnis, die ihn berauscht und ihm zugleich im wörtlichen Sinne des Wortes den Magen umdreht.
Obwohl Cunningham durchaus nicht selten einen hohen Ton anschlägt, entgeht er (fast immer) der Gefahr, in Kitsch abzugleiten. Zum einen durch gewisse ironische Erzählerkommentare und Brechungen, zum anderen durch das Ende. Die letzte Szene mit Missy findet in den Niederungen eines stillosen Starbucks Cafés statt. Alles war Täuschung, alles Strategie und Spiel. Auch Peters Gespräch mit Rebecca in der Schlussszene beschert ihm eine böse Überraschung, die dann so böse auch wieder nicht ist, sondern nur deutlich macht, dass das allzu Bekannte auch Fremdes in sich birgt und wir uns täuschen, wenn wir glauben, auf festem Boden zu stehen.
Im Grunde ist dies keine Liebesgeschichte. Nicht einmal die Lebenskrise der Hauptfigur steht wirklich im Vordergrund. Vielmehr geht es dem Autor darum, bestimmte Themen, die ihm am Herzen liegen, zu erörtern: die Schönheit, die Kunst, das Vergängliche. So sagt Peters Mitarbeiterin, als er ihr die Geschichte von Missy erzählt: "Du bist schon immer in die Schönheit an sich verliebt gewesen. Du bist in dieser Hinsicht komisch." Aber es gibt auch hier keine Sicherheiten. So zweifelt Peter insgeheim an dem Wert der Kunstwerke, die er ausstellt, obwohl er sie sorgfältig auswählt und sich dabei nicht von herrschenden Marktströmungen leiten lässt. In einer wunderbar gleichnishaften Szene wird dieser Grundzweifel deutlich. Einer seiner Künstler verpackt und verbirgt seine Ölbilder, indem er sie in Tücher wickelt und verschnürt. Beim Abtransport eines dieser Bilder entsteht versehentlich ein Schlitz in der Hülle, und was dahinter zum Vorschein kommt, erkennt Peter als jämmerlich und stümperhaft. Und dennoch: "Das möchte Peter von der Kunst. Diesen Herzschmerz, dieses Sich-selbst-Spüren in der Gegenwart von etwas Hinreißendem und Vergänglichem, etwas, das durch die Hinfälligkeit des Fleisches scheint." Ein hoher Anspruch, dem der Autor vielleicht selbst nicht gerecht werden kann, eine Annäherung daran ist ihm aber gelungen. |