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Henning Ahrens

 
Rezensionen

Henning Ahrens: Provinzlexikon
 

Eine alphabetische Reise durch die Provinz
Andreas Heckmann

Das Alphabet ist wunderbar geeignet, verstreute Gedanken, die zu einem langen Essay, gar zu einer wissenschaftlichen Abhandlung zu runden, strapaziös und undankbar wäre, in lockenden Häppchen und mit der Lizenz zur Ironie darzureichen und darauf zu bauen, dass die Leser - durchs Internet längst den Umgang mit Patchworks gewöhnt - sich die zersplitterte Welt schon zusammensetzen. Steffen Möller hat dies in Viva Polonia - Als deutscher Gastarbeiter in Polen 2008 erfolgreich getan und den Deutschen von "Aberglaube" über "Leichtigkeit" bis "Zwei Ausfüge" eine Landeskunde beschert, die nach Aussage vieler Polen ihr Land überaus treffend beschreibt. 2006 ist bei Zweitausendeins eine wunderbare Auswahlausgabe der Briefe von Hans Jürgen von der Wense erschienen, einem Universalgelehrten und Verfasser oft ausufernder, rhapsodischer Episteln, die - hätte man sie herkömmlich präsentiert - kaum eine Maus hinterm Ofen hervorgelockt hätte. Auf längere, originelle Sequenzen reduziert und seltsam willkürlich in eine Ordnung von Aas bis Zylinder gebracht, haben diese Briefe die literarische Welt dagegen entzückt - auch Henning Ahrens, der dieses Ordnungsprinzip für sein Provinzlexikon übernommen hat und von der Wense mit dem Motto seines Buchs, aber auch mit dessen erstem und letztem Lemma, mit Aas und Zylinder also, Reverenz erweist.
Als auf dem Dorf aufgewachsener Bauernsohn hat Ahrens in den Gedichtbänden Lieblied was kommt (1998) und Stoppelbrand (2000) Kindheit und Jugend auf dem Land, die Arbeit auf dem Feld, aber auch naturmystische Erfahrungen thematisiert, um mit Lauf Jäger lauf (2002) einen nicht zuletzt aus dem magischen Realismus der dreißiger Jahre gespeisten surrealen Roman übers Land zu verfassen und 2007 mit Tiertage einen scheinbar konventionellen ländlichen Gesellschaftsroman vorzulegen, zu dessen Helden freilich auch einige sprechende Tiere gehören, die einem Verbrechen auf der Spur sind. Zuletzt hat Ahrens 2008 wunderbar lässige, dann wieder sehr offene, mit sich hart ins Gericht gehende, dabei aber erneut ländlich geprägte Gedichte unter dem Titel Kein Schlaf in Sicht veröffentlicht, ist also inzwischen prädestiniert dafür, der tiefsten Provinz in Form eines Lexikons auf den Leib zu rücken. Und wo er herkommt - aus einem im Zuckerrübengürtel der Börde gelegenen Dorf südlich von Peine - hat die Provinz nichts Gefälliges, bietet weder Alpenblick noch Weinberge oder Ostseeförden, weder karstige Albhöhen noch Heide oder Seenplatten.
Es ist ein flaches, herzlich monotones, zersiedeltes, industriell versehrtes, aber fruchtbares Land, und seine Bewohner haben nichts Pittoreskes oder Kauziges. Es ist dort so normal, wie es nur sein kann, also haarscharf am Wahn gebaut, und dass Christian Petzold nur wenige Kilometer von Peine entfernt seinen im Niemandsland der Provinz spielenden Film Wolfsburg gedreht hat, ist kein Zufall. In dieser Landschaft lebt der Schriftsteller und Übersetzer Ahrens nach Jahren in Kiel, wo er Anglistik studiert und über die Lebensphilosophie von John Cowper Powys promoviert hat, nun wieder seit gar nicht kurzer Zeit, und dieser Gegend, durch die der Mittellandkanal verläuft, in der bei klarem Wetter von fern der Harz zu sehen ist und wo die Kleinstadt Peine für den Hausgebrauch die Großstadt ersetzen muss, hat er nun zwar kein Denkmal gesetzt, aber einen Streifzug gewidmet.
Heiter reihen sich Mini-Essays, Bonmots, Erinnerungen, Impressionen und kulturkritische Gedanken von A bis Z und werden durch hochgestochene bildungsbürgerliche Leserbriefe eines pensionierten Lehrers (erfunden), forciert jugendliche Fun-Radio-Beiträge (ausgedacht), versponnene Notizen eines ältlichen Geschwisterpaars (getürkt) und Liebesbriefe schüchtern-nüchternster Natur (fabuliert) erweitert, in denen ein Panoptikum provinzieller Typen mit leichter Hand seine klischeehaften Urständ feiert. Auch verbinden sich aufs Glücklichste ein sehr persönlicher Zugriff, mit dem Ahrens zum Beispiel von seinem Kater Karlo berichtet, mit Metareflexionen, verbindet sich das Ernste mit dem Heiteren, das Lob der Provinz mit ihrer Schelte, und insgesamt stellt sich der Eindruck einer nicht flurbereinigten Kulturlandschaft ein, obwohl oder weil die Spießigkeit und andere Schattenseiten der Provinz nicht ausgespart werden. Welch verschlungene thematische Wege da begangen werden, mögen die unter F versammelten Stichworte zeigen: Es beginnt mit Fachwerk, geht weiter mit Fährte, Faktotum, Familie, Feldbefreiung, Feldfrucht, Feldmark, Feldroboter und Feldweg, erreicht Fettleibigkeit, Flagge, Flaschenpost, Fliege, Fliegenklatsche, Flohmarkt und Flurbereinigung, wendet sich den Begriffen Flurname, Fluss, Forst, Frau (schöne), Freak und Freiwillige Feuerwehr zu und erreicht schließlich Friedhof, Friesenzaun, Friseur, Fuchsjagd, Furche und Fußgängerzone.
Dieses Buch ist, keine Frage, eine wunderbare Lektüre und ein großer Gewinn für alle, die der Provinz in gebrochener Anhänglichkeit verbunden sind - sei es, weil sie dort leben müssen oder wollen, sei es, weil sie gern dorthin zurückkehren würden oder ihr noch in der Großstadt verhaftet sind und in ihrem Kiez eine Provinzialität eigener Art vorgefunden haben. So schön und hoch zu loben indes der Inhalt des Buches ist - über seine Aufmachung mag man streiten: Vom giftgrünen Einband über den Flattersatz bis zur für ein Lexikon nicht eben soliden Bindung wären andere Lösungen womöglich ansprechender gewesen.

 

Henning Ahrens: Provinzlexikon. Illustration und Buchgestaltung: Jana Cerno. 300 Seiten. Knaus. München 2009. € 19,90.