Verpasste Gelegenheit
Volker Kaminski
Was hätte das für ein Roman werden können! Istanbul
1977. Die türkische Gesellschaft befindet sich im Umbruch,
linke, fortschrittliche Kräfte kämpfen gegen reaktionäre,
paramilitärische Einheiten, Tausende von Studenten und Arbeitern
gehen gemeinsam zu Kundgebungen und werden auf einer 1.-Mai-Demonstration
von Milizen beschossen, die ein Blutbad unter den Demonstranten
anrichten. Mitten unter ihnen Eiche, ein junger Mann, der als
angehender Abiturient gerade seine ersten Schritte in die von
politischen Kontroversen aufgeheizte Gesellschaft macht und sich
prompt in eine junge revolutionäre Kämpferin verliebt,
die ihm an diesem Tag das Leben rettet.
Doch was sich am Anfang lebendig und interessant liest, entwickelt
sich in der Folge zu einer gedehnten, umständlichen Schülergeschichte
voll nebensächlicher Details. Zwar hält die in der Studentenbewegung
aktive Zuhal zunächst Kontakt zu ihrem "kleinen Freund",
doch so richtig findet Eiche in ihr streng organisiertes Leben
nicht hinein. Und dem Erzähler scheint es ebenso wichtig
zu sein, uns Eiches Erlebnisse während eines Ferienjobs in
der Gemüsehalle zu beschreiben, seine Erfahrungen mit seiner
ersten Freundin zu schildern oder uns davon zu berichten, was
sich zu Hause bei Mutter und Geschwistern tut.
Es sind zu viele Puzzleteile, aus denen der Autor seine Geschichte
zusammensetzt, deren Grundidee - die Verschränkung von persönlichen
und politischen Details - eigentlich reizvoll ist. Natürlich
interessiert es uns, welches Schicksal die fortschrittlichen Kräfte
in der Türkei der späten Siebziger nehmen, wie sich
gerade in Istanbul die türkischen Frauen von ihrer traditionellen
Rolle emanzipieren und nach Selbstverwirklichung streben. Doch
die weiblichen Rollen sind im Roman viel zu sehr aus der Perspektive
des Helden betrachtet. Während er selbst oft unentschlossen
und ziellos wirkt, sind es Frauen, die ihm den Weg weisen und
ihn beschützen, sei es seine Mutter oder die aufopferungsvolle
Mitstudentin Semra oder seine Professorin. Aber Eiche denkt die
ganze Zeit nur an Zuhal. Zwar hat er sich von jedweder politischen
Aktion zurückgezogen, doch er geht geradezu detektivisch
vor, um seine inzwischen in den Untergrund abgetauchte Geliebte
ausfindig zu machen. Mehr Fahrt nimmt der Roman an den leider
zu raren Stellen auf, an denen das Geschehen aus Zuhals Sicht
beschrieben wird. Ihre Verstrickung in den politischen Terrorismus
zeichnet der Autor mit großer innerer Anteilnahme. So prägt
sich dem Leser die Figur tief ein: eine zierliche junge Frau mit
straffem Pferdeschwanz, "ungeschminkt und hübsch",
im Anschlag meist die Kalaschnikow, und erfüllt von der Überzeugung,
bei ihren Anschlägen und Aktionen politisch im Recht zu sein.
Wie naiv diese Zeit politisch tatsächlich war, macht eine
Szene deutlich, in der Zuhal mit einer Gruppe von Männern
eine Bank überfällt. Sie tritt mit der Waffe an den
Bankschalter und fordert von der Kassiererin mit den Worten das
Geld: "Wir sind hier, um die finanziellen Mittel der Bank
im Namen des Volkes zu beschlagnahmen!"
Der Roman beginnt im Mai 1977 und arbeitet Kapitel für Kapitel
die Folgemonate ab, so dass der Leser beinahe erleichtert ist,
als endlich der Zeitpunkt des Militärputsches, September
1980, erreicht ist.
In den letzten Kapiteln findet der Roman zu der Spannung, die
man die ganze Zeit vermisst hat. Zuhal kämpft in einer linken
Splittergruppe am Schwarzen Meer. Dort verschanzen sie sich in
den Bergen, machen Jagd auf feindliche Soldaten und werden selbst
gejagt. Die Szenen sind überzeugend, und die Figur Zuhal
wächst uns endgültig ans Herz, ihr aussichtsloser Kampf,
ihr innerer Widerwille gegen die Grausamkeiten des Kriegs, ihr
Abscheu vor Terror und Gewalt, in die sie selbst so tief verstrickt
ist, und ihre Unfähigkeit, sich ihre eigene Schwäche
einzugestehen. Doch leider gibt es zu wenige solcher Passagen,
damit der Roman zu einer wirklich packenden Lektüre würde.
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