Russische Odyssee
Gerald Funk
Nichts gegen Harry Potter. Aber jugendliche Helden
müssen nicht immer mit magischen Fähigkeiten ausgestattet
sein, um uns zu verzaubern. Wer kennt nicht die traurige Geschichte
Oliver Twists, die mörderische Schatzsuche von Jim Hawkins
und Long John Silver oder die Mississippi-Odyssee der Freunde
Tom Sawyer und Huck Finn? Demnächst wird man diese erlauchte
Galerie von jungen Vagabunden und ihren außergewöhnlichen
Erlebnissen um die Reiseabenteuer der Geschwister Apraksin erweitern
müssen.
Die Geschwister Apraksin, das sind Dillotschka, Ossja, Fedja,
Polly und Klascha. Sie sind fünf bis fast sechzehn Jahre
alt und sollen, da die Mutter tot und der Vater von einer Geschäftsreise
nicht heimgekehrt ist, auf verschiedene Kinderheime verteilt werden.
Allerdings sind die Zeiten nicht normal. Man schreibt das Jahr
1918, es herrscht Bürgerkrieg in Russland. Der Zar ist ermordet,
die Bolschewiken haben die Verfassungsgebende Versammlung aufgelöst
und die alleinige Macht an sich gerissen, während im riesigen
Reich noch ganze Regionen von gegenrevolutionären Militäreinheiten
beherrscht werden und vagabundierende Verbrecherbanden, die keiner
Seite zuzuzählen sind, das Land unsicher machen. Überall
regiert das Chaos, Nahrungsmittel fehlen, Hunger und gefährliche
Infektionskrankheiten wie Typhus oder Cholera breiten sich aus.
Die fünf Geschwister beschließen zu fliehen und schließen
sich einer Künstlertruppe an, die in der Provinzstadt gastiert,
in der sie wohnen. Sie reisen, meist mit der Bahn, über Rostow
am Don, einer Exklave der Konterrevolutionäre, in der sich
Flüchtlinge aus ganz Russland sammeln, über das Assowsche
Meer nach Jalta, von der Krim weiter nach Moskau, wo sie eine
Tante zu finden hoffen, die sie aufnimmt.
Das Buch ist angefüllt mit Geschichten, traurigen, humorvollen,
ernsten, auch grausamen. Wie das Leben selbst. Es tauchen unzählige
unvergessliche Figuren auf und verschwinden wieder. Da ist der
versoffene Onkel Kitai, ein demobilisierter Soldat, der die Geschwister
zu Beginn ihrer Irrfahrt in seine Obhut nimmt, da sind Saffo Dawidowna
Bljumental und Germia Moissejewna Lamakina, Jüngerinnen von
Isadora Duncan, die eine Art Waldorf-Schule eröffnen, in
der die Geschwister unterkommen können und Freunde finden,
da sind Schieber, Straßenkinder, verarmte Adlige und Großbürger
auf der Flucht, geschäftstüchtige Vermieterinnen, alte
vornehme Damen, die mit der neuen, revolutionären Zeit so
gar nichts anfangen können, und da ist das verwöhnte
Püppchen Dajanka, das hinter ihrer geputzten Fassade das
geheime Leben einer leidenschaftlichen Leserin verbirgt, eine
der schönsten Episoden des Buches.
Am unvergesslichsten aber sind die fünf Geschwister selbst,
vor allem der vorlaute Pfiffikus Ossja, der die Truppe nicht selten
durch seinen Einfallsreichtum aus dem Schlamassel zieht, sie mitunter
durch seine gewagten Aktionen aber auch erst hineinbringt, sein
Bruder Fedja, der Ruhige, der auf Ossja aufpasst und um sein Wohlergehen
mehr als um sein eigenes besorgt ist, der sich immerhin noch zu
einem großartigen Taschendieb entwickelt, und da ist natürlich
die dreizehnjährige Polly, die Hauptfigur des Romans, lebensklug,
energisch und nicht immer ganz mädchenhaft. Sie ist süchtig
nach Büchern und nimmt sie in ihre Obhut, wo immer sie welche
findet. Sie weiß, dass ein Leben ohne Literatur zwar möglich,
aber für uns Leser auf Dauer nicht wirklich erträglich
ist.
Alle fünf müssen sich mit Verstand und Glück durchschlagen
in einer Zeit, in der jeder jedem misstraut, in der jede Mahlzeit
erobert sein will, in der das Reisen zur Qual wird, die Hitze
die Schleimhäute austrocknet oder der Frost Mütterchen
Russland erstarren lässt. Am Beginn helfen noch ein paar
in die Kleider eingenähte Goldmünzen aus der Sammlung
des Vaters, später muss gestohlen und gearbeitet, durch List
gewonnen oder geschickt getauscht werden, was eben so vorhanden
ist. Wen dieser Roman nicht mitreißt, wen der Wechsel der
Jahreszeiten, die Aufmerksamkeit der Autorin für kleine Details,
für den Zauber der Dinge, die mit großem Können
arrangierten vielen Geschichten und Lebensläufe, die mit
der zentralen Fabel verwoben sind, nicht fesseln, dem ist nicht
zu helfen, sei er dreizehn oder dreiundsiebzig.
Auch Leo Perutz hat in seinem Roman Wohin rollst du, Äpfelchen
eine Odyssee durch das chaotische nachrevolutionäre Russland
geschildert und damit in der Weimarer Republik einen Sensationserfolg
erzielt. Dasselbe ist Karla Schneider mit ihren Geschwistern
Apraksin zu wünschen, vielleicht erzählt sie uns
dann die unbedingt nötige Fortsetzung dieser großartigen
Geschichte.
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