Eine zeitlose Geschichte
Matthias Kehle
Vom Gipfel oberhalb Massimos Bergdorf kann man
an klaren Tagen die Madonnina auf dem Mailänder Dom sehen.
Es ist eine idyllische Bergwelt, in der alles seine Ordnung hat.
Jeder hat seine Arbeit, seine Frau, seine Familie, und es regiert
"der Wille des Herrn. Er stellt die Menschen dahin, wo er
sie braucht." Massimo, ein gestandener Mann, den die Frauen
im Dorf begehren, hat alles was er braucht: Frau, Geliebte, Freunde
und Stammkneipe. Eines Tages jedoch verschwindet er völlig
unerwartet mit einer Touristin nach Mailand und läßt
seine Frau Severina und seine Mutter auf der Hochalm zurück.
Severina sucht das ganze Dorf nach ihm ab und wird zum Gespött
der Leute. Sie beschließt zu schweigen, bis Massimo wieder
zurückkommt, und verbringt mit ihrer greisen Schwiegermutter
einen einsamen Winter im Berghaus. Bernd Schroeder erzählt
in seinem dritten Roman Die Madonnina nicht die Geschichte
einer Flucht, sondern die einer Rückkehr. Massimo weiß
nicht, weshalb er geflohen ist: Ist es die Enge seines Bergdorfes
oder sein unersättlicher Trieb? Langsam, gleichsam in Zeitlupe
und in vielen Rückblenden wird eine Geschichte erzählt,
die vor hundert Jahren hätte spielen können, als eine
Reise von Como nach Mailand noch ein Abenteuer war, wären
da nicht ständig die klingelnden Handys. Es ist eine zeitlose
Geschichte von vorübergehender Nähe und Ferne zwischen
Männern und Frauen. Bernd Schroeder erzählt sie wunderbar
unaufgeregt in einer rhythmischen, fast singenden Prosa. Massimo
stellt sich viele Fragen, Severina stellt sich viele Fragen, und
zum Schluß gibt's - wie in jeder Idylle - ein Happy
End, das aber ganz und gar nicht störend oder an den Haaren
herbeigezogen erscheint: Massimo ist wieder zu Hause, Severina
spricht wieder, alles hat seine Ordnung.
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