Nacht über Soho, Kate Atkinsons prächtig ausgestattete Inszenierung eines Londoner Halbweltdramas in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, landete auf dem ersten Platz der "Krimibestenliste", und gleich lag die oft diskutierte Frage, was eigentlich einen Kriminalroman ausmache, wieder einmal nah. Denn die auf historischen Vorbildern beruhende Geschichte der taffen Nachtclubbetreiberin Nellie Coker hat, um nur zwei Klassiker zu nennen, mehr mit Charles Dickens als mit Arthur Conan Doyle gemein. Auch wenn es dem figurenreichen Roman an Mord und Totschlag nicht mangelt. Näher am Krimi ist der neue, noch nicht ins Deutsche übersetzte Fall ihres Serienermittlers Jackson Brodie: Death at the Sign of the Rook. Ein sehr amüsantes, gelegentlich metafiktionales Spiel mit den Strukturelementen traditioneller britischer Detektivliteratur, die angeblich zwischen 1920 und 1940 ein "Goldenes Zeitalter" erlebt hat. Und sich auch Jahrzehnte später großer Beliebtheit erfreut, wie all die über Leichen stolpernden Seniorenkränzchen, Gemeindepfarrer und Dorfpolizisten zeigen. So viel mörderische Gemütlichkeit hat es mehr denn je verdient, zum Opfer postmoderner Spottlust zu werden. Vorausgesetzt, eine fabelhafte Autorin wie Kate Atkinson nimmt sich der Sache an. Oder der vergleichbar talentierte Jonathan Coe, dessen satirische Romane über die britischen Verhältnisse ihren Effekt den schon immer gekonnt montierten Kolportage-Elementen verdankten. Ein aktuelles Beispiel ist Der Beweis meiner Unschuld, ein cleverer literarischer Beutezug, auf dem gleich mehrere populäre Genres gnadenlos, aber liebevoll geplündert werden. Ob die so demonstrierte Kunstfertigkeit der zeitkritischen Intention des Romans dienlich ist, darf natürlich gefragt werden. Vergnüglich ist Coes kreativer Umgang mit narrativen Konventionen allemal.
Das gilt auch für den ungemein produktiven amerikanischen Autor Percival Everett, dessen Roman James im vergangenen Jahr viel Aufmerksamkeit bekam. Schon zwei Jahre vor dieser radikalen Neu-Interpretation von Mark Twains Huckleberry Finn erschien in den USA die Superschurken-Groteske Dr. No, die jetzt auch auf Deutsch vorliegt. Der Titel führt absichtlich in die Irre. Denn der Held und Erzähler des Romans ist kein klischeehaft sadistischer Bösewicht mit asiatischen Zügen wie in Ian Flemings gleichnamigem Bond-Abenteuer von 1958, sondern ein weltfremder Mathematiker namens Wala Kitu, der sich mit Leidenschaft dem "Nichts" widmet. Einen genialen Verbrecher gibt es allerdings auch, doch der trägt keinen Doktortitel. John Sill ist ein schwarzer Milliardär, der sich Kitus Forschungen zunutze machen will, um sich an der rassistischen US-Gesellschaft zu rächen. Dazu bietet das "Nichts" schier unendliche Möglichkeiten, deren Verständnis aber nicht notwendig ist, um seinen Spaß an dem Buch zu haben. Denn auch semantisch lässt sich mit der Vokabel "Nichts" allerhand anstellen, sodass man lesend schnurstracks in einer Wortspielhölle der ganz besonderen Art landet. Dort lässt es sich bis zu einem bestimmten Punkt ganz gut aushalten. Aber auch geistreiche Prosa kann ermüden. Zumal dem Autor kein zündender Abschluss für seine literarische Versuchsanordnung eingefallen zu sein scheint. Was angesichts des narrativen Aufwands letztendlich doch ein bisschen unbefriedigend ist.
Nach so viel Metafiktion gilt deshalb die letzte Empfehlung dieser Kolumne einem guten Bekannten, dem Münchner Trödler und Gelegenheitsermittler Wilhelm Gossec, den sein aktueller Fall in ein Kloster führt, wo es selbstredend nicht mit rechten Dingen zugeht. Das Ambiente ist Gossec aus seiner Kindheit vertraut, aber nicht in einem positiven Sinne. "Waisenhausdefekt" nennt er das leicht verharmlosend, ohne ins Detail zu gehen. Ein menschenfreundlicher Zeitgenosse ist er dennoch geworden. Und aufrecht obendrein. Deshalb kann er, nachdem der Fall geklärt ist, zwar leicht blessiert, aber erhobenen Hauptes von dannen ziehen. Der Autor Franz-Maria Sonner, der unter dem Pseudonym Max Bronski inzwischen mehr als ein Dutzend Kriminalromane veröffentlicht hat, zeigt sich in Die Josephsbrüder als Routinier im besten Sinne. Und das ist viel wert. |
Kate Atkinson: Nacht über Soho. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. 528 Seiten. DuMont. Köln 2025. € 25,00.
Kate Atkinson: Death at the Sign of the Rook. 336 Seiten. Penguin. London 2024. € 14,95.
Percival Everett: Dr. No. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. 320 Seiten. Hanser. München 2025. € 26,00.
Max Bronski: Die Josephsbrüder. Kriminalroman. 130 Seiten. Nautilus. Hamburg 2025. € 16,00. |