Mord & Totschlag 40
Die Krimi-Kolumne von Joachim Feldmann
 

Als Howard Hawks Raymond Chandlers Roman The Big Sleep verfilmte, so erzählt eine alte Anekdote, sorgte die verwickelte Handlung der Romanvorlage für einige Unklarheiten, so daß man sich, einigermaßen verzweifelt, an den Autor um Hilfe wandte. Dieser gab auch bereitwillig Auskunft, die jedoch, wie sich wenig später herausstellte, nicht unbedingt von einer guten Kenntnis des eigenen Buches zeugte. Der Film wurde trotzdem gedreht, und auch die Tatsache, daß wohl kaum jemand in der Lage sein dürfte, seinen Plot zu rekonstruieren, nimmt ihm etwas von seinem Klassikerstatus.
Mir ist Chandlers "Versagen" sehr sympathisch, da auch ich kaum in der Lage bin, nach der Lektüre eines Kriminalromans zu erklären, was genau den Ermittler auf die Spur des Täters brachte, geschweige denn, wie es ihm letztendlich gelang, diesen zu überführen. Gewöhnlich fallen mir deshalb Ungereimtheiten in der detektivischen Arbeit kaum auf, und ein entsprechender Schnitzer muß schon ziemlich plump daherkommen, daß ich ihn bemerke. So hat es mich um so mehr erstaunt, daß ausgerechnet ein großartiger Routinier wie Georges Simenon seinem Detektiv mit einem anonymen Anruf auf die Sprünge meint helfen zu müssen. "Wollen Sie einen guten Tip, Monsieur Maigret?", fragt da nämlich jemand am Telefon, um dann flugs mit dem Namen des Täters aufzuwarten. Wer der wertvolle Informant war, der den Kommissar aus dem Dunklen ans Licht führt, erfahren die Leser von Maigret und der einsame Mann leider nicht, und so schließt man das ansonsten nicht üble Bändchen mit dem guten Gefühl, daß auch ein großer Kriminalschriftsteller wie Simenon manchmal ohne einen deus ex machina nicht auskommt. Und ich freue mich, darauf hinzuweisen, daß die Neuausgabe der Maigret-Romane im Diogenes-Verlag zügig voranschreitet. Vom Klassiker zum Newcomer. Wie universell das US-amerikanische Konzept des hartgesottenen Privatermittlers mittlerweile geworden ist, zeigt der erste Roman des türkischen Schriftstellers Celil Oker, Schnee am Bosporus. Wie üblich reißt ein Anruf den Detektiv aus seiner Muße, der Auftrag klingt einigermaßen mysteriös, aber doch verlockend, und am Ende ist dann alles anders gekommen, als es zu Beginn ausgesehen hat. Nur daß der Ex-Pilot Remzi Ünal seine Dienste eben in Istanbul anbietet. Und weil er ebenso abgebrüht und selbstironisch ist wie seine amerikanischen Kollegen, liest man diesen Krimi mit großem Vergnügen.
Weitaus weniger souverän als Ünal geht der deutsche Privatdetektiv Wolfgang Schröder seiner Arbeit nach. Dafür ermittelt er auch in einer Gegend, die manchem noch exotischer erscheinen mag als die Stadt am Bosporus, nämlich im tiefsten Ruhrgebiet. Schröder trinkt zu viel, hat ein ziemlich siffiges Büro und jede Menge Schulden, aber wenig lukrative Aufträge. Zum Glück schneit ihm die arbeitslose Chris Ullmann ins Haus, die nicht nur in der Buchhaltung für Ordnung sorgt, sondern sich auch als detektivisches Naturtalent entpuppt. Als "Steeler Straße"-Krimis sind die Fälle des ungleichen Duos aus Essen bekannt geworden, die man jetzt in einem preiswerten voluminösen Sammelband erwerben kann. Autor Conny Lens erzählt lakonisch und mit einem scharfen Blick fürs garstige Detail, so daß sich zum einverständigen Grinsen des Lesers auch immer ein leises Grausen gesellt.
Nach nur fünf Fällen hat Lens die Serie, eigentlich untypisch für den Regionalkrimi, im Jahre 1995 beendet. Üblich scheint mir eher, erfolgreichen Detektiven mindestens einmal im Jahr einen öffentlichen Auftritt zu gönnen. Georg Wilsberg, Ex-Anwalt, Ex-Briefmarkenhändler und immer noch Privatdetektiv im properen Münster, hat es in nur zehn Jahren sogar zu bislang zwölf Abenteuern gebracht. An Fleiß kann es sein Schöpfer Jürgen Kehrer mittlerweile mit den anerkannten Vielschreibern des Genres aufnehmen, wenn auch nicht unbedingt mit einem Georges Simenon, der zwischen 1929 und 1972, neben unzähligen anderen Romanen, allein 84 Maigrets verfaßte. Kehrer läßt seinen Helden gerne ein wenig leiden, deshalb gesellt sich zur chronischen Neurodermitis, die Wilsberg in früheren Bänden immer wieder ins Ölbad zwang, nun eine Herzattacke. Doch damit das Elend nicht zu groß wird, führt den Detektiv sein zwölfter Fall aus Münster hinaus auf ein idyllisch gelegenes Schloß, wo sich unbekannte Vandalen nächtlich zum munteren Zerstörungswerk einfinden. Ein leichtes Unterfangen, möchte man denken, das sich wunderbar mit einem kleinen Erholungsurlaub im luxuriösen Schloßhotel verbinden lassen müßte. Doch wie nicht anders zu erwarten, erweisen sich solche Hoffnungen als voreilig, wenn Wilsberg sich plötzlich mit einer Leiche im gräflichen Keller konfrontiert wird. Wie gewohnt liefert Jürgen Kehrer leichte Krimi-Kost für den schnellen Verzehr, ohne daß man üble Nachwirkungen befürchten müßte.
Daß die Beschäftigung mit Literatur nicht immer harmlos endet, muß allerdings Hauptkommissar Onno Tjaden befürchten. Eigentlich sollte er ja nur herausfinden, wer sich nach Kräften bemüht, auf der Nordseeinsel Langeoog Chaos zu stiften. Schließlich mögen es die Feriengäste gar nicht, wenn aus einer Dusche plötzlich Blut fließt oder wenn sie Angst haben müssen, beim traditionellen Dünensingen in die Luft gesprengt zu werden. Gar keine harmlosen Streiche also, denen sich Tjaden widmen muß, doch sein kriminalistisches Gespür wird erst so richtig gefordert, als es Bodo Bogatzki, den scharfzüngigen Kritiker vom "Literarischen Terzett" bei einer Lesung im "Haus der Insel" dahinrafft. Blausäurevergiftung lautet die Todesursache, und der Mordverdächtigen sind nicht wenige. Schließlich liebte Bogatzki nicht nur die Literatur, sondern auch die Frauen, und die menschlichen Leidenschaften haben schon immer für gute Mordmotive gesorgt. Onno Tjaden hat also allerhand zu tun, bis die Welt auf Langeoog wieder in Ordnung ist und er beruhigt die Fähre zum Festland nehmen kann. Antje Friedrichs heißt die Autorin, die gewöhnlich unter einem anderen Namen publiziert und hier ihren ersten Kriminalroman vorgelegt hat. Letzte Lesung Langeoog ist ein flott und mit viel Ironie geschriebener Krimi, der auch Spaß macht, wenn man nicht zu den regelmäßigen Besuchern der Nordseeinsel gehört.
Zum Schluß zu einer Autorin, die den Lesern dieser Kolumne gut bekannt sein dürfte. Anne Chaplet hat sich bereits mit ihrem ersten Roman Caruso singt nicht mehr einen Spitzenplatz in der deutschen Kriminalliteratur erschrieben. Auch ihr zweites Buch Wasser zu Wein, ein nicht ohne Augenzwinkern verfaßter, fast klassischer Detektivroman, braucht den Vergleich mit angelsächsischen Vorbildern nicht zu scheuen. Mit Nichts als die Wahrheit bewegt sich die Autorin wieder in die Gefilde des Politthrillers, und das Thema ist wie schon bei Caruso singt nicht mehr die deutsche Vergangenheit. Damals mußte sich Anne Burau, die sich auf einen Biobauernhof in die Rhön zurückgezogen hatte, mit der Stasi-Vergangenheit ihres ermordeten Ehemannes Leo auseinandersetzen. Dieses Mal verschlägt es sie unerwartet nach Berlin, nie hätte sie gedacht, daß ihr politisches Engagement einmal zu einem Bundestagsmandat führen würde. Da jedoch der Abgeordnete Bunge unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen ist, muß sie nachrücken, und gerät mitten hinein in ein Schlangennest aus Lügen, Verrat und Manipulation. Anne Chaplet hat einen ambitionierten Roman geschrieben, der, anders als Wasser zu Wein, offenbar mehr sein will als "bloß" ein spannender Krimi, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob dies ein erstrebenswertes Ziel für diese Autorin ist, denn mir scheint Nichts als die Wahrheit thematisch ein wenig überfrachtet. Lesenswert ist das Buch aber allemal, da Anne Chaplet nicht nur versteht, einen spannenden Plot zu stricken, sondern auch ihre Figuren wunderbar plastisch darzustellen vermag. Für die deutsche Kriminalliteratur ist es ein gutes Zeichen, daß sich eine solch talentierte Erzählerin dem Genre verschrieben hat.

 

Georges Simenon: Maigret und der einsame Mann. Roman. Aus dem Französischen von Ursula Vogel. 201 Seiten. Diogenes. Zürich 2000. (Neuausgabe). 16,90 DM.

Celil Oker: Schnee am Bosporus. Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen. 155 Seiten. Unionsverlag. Zürich 2000. 14,90 DM.

Conny Lens: Die Sonnenbrillenfrau. Die Steeler-Straße-Krimis. 747 Seiten. Haffmans. Zürich 2000. 24,80 DM.

Jürgen Kehrer: Wilsberg und die Schloss-Vandalen. Kriminalroman. 159 Seiten. Grafit. Dortmund 2000. 14,80 DM.

Antje Friedrichs: Letzte Lesung Langeoog. Inselkrimi. 184 Seiten. Prolibris Verlag Rolf Wagner. Kassel 2000. 18,80 DM.

Anne Chaplet: Nichts als die Wahrheit. Roman. 320 Seiten. Antje Kunstmann. München 2000. 39,80 DM.