"Eine bestialisch gefolterte Leiche. Ein Kellerverlies. Ein Serienkiller." Mehr braucht es anscheinend nicht, um hiesige Thrillerfans zu beglücken. Noch attraktiver könnte das Verlagsprodukt, auf dessen Umschlag sich dieses schöne Beispiel zeitgenössischer Werbelyrik findet, vielleicht sein, wäre die Handlung nicht in Paris, sondern in der Bretagne oder der Provence angesiedelt. Denn Kriminalromane, die dort spielen, wo deutsche Studienrätinnen gerne Urlaub machen, sind nicht erst seit gestern ein Erfolgstrend auf dem Büchermarkt und fügen sich wunderbar in das überreiche Angebot literarischer Konfektionsware. Dagegen ist grundsätzlich auch überhaupt nichts einzuwenden, müsste man nicht Sorge haben, dass manches individuelle, in liebevoller Handarbeit gefertigte Unterhaltungsstück in dem Meer von Instantprodukten untergeht. Anglophilen Freunden der Spannungsliteratur beispielsweise, die der Meinung sind, dass Chesterton seinem Father Brown erheblich mehr Fälle hätte gönnen sollen, sei dringend der anglikanische Pfarrer Sidney Chambers ans Herz gelegt. Erfunden von James Runcie, immerhin Sohn eines hohen Würdenträgers der englischen Staatskirche, darf der Hobby-Kriminalist seit einigen Jahren in Grantchester, einem fiktiven Städtchen in der Nähe von Cambridge, ermitteln. Sechs lose miteinander verknüpfte Erzählungen mittlerer Länge finden sich im ersten Band Der Schatten des Todes. Sidney Chambers ist ein typischer Detektiv wider Willen, der, wie es diesem Figurentypus zu eigen ist, das Verbrechen auf eine merkwürdige Weise anzieht. Sein wacher Intellekt und eine berufsbedingte Menschenkenntnis sind daran allerdings nicht unschuldig. Das hat er mit seinem katholischen Vorbild gemeinsam. Aber anders als Chesterton geht es Runcie nicht um ein theologisches Projekt. Er ist ein traditioneller Erzähler, dem vor allem daran liegt, seinen Helden sympathisch erscheinen zu lassen. Und damit die Geschichten nicht unter einen zu starken Realismusverdacht geraten, sind sie in den sehr hübsch nachmodellierten frühen fünfziger Jahren angesiedelt. Wer eine angenehm altmodische, aber keinesfalls unintelligente Lektüre sucht, darf sich Sidney Chambers getrost anvertrauen.
Unaufgeregtes Erzählen ist auch ein Markenzeichen des chinesisch-amerikanischen Schriftstellers Qiu Xiaolong. Allerdings sind seine Romane um Oberinspektor Chen Cao aus Shanghai veritable Politthriller, die mit nüchternem Blick den Alltag im parteikontrollierten Staatskapitalismus der ehemals roten Republik porträtieren. Illusionslos erkennt Chen seine Beförderung zum "Direktor des Komitees zur Rechtsreform" als probates Mittel, einen unbequemen Ermittler loszuwerden, jedoch ohne dass er weiß, welcher seiner Fälle dafür verantwortlich war. Schnell entwickelt die Intrige bedrohliche Dimensionen, und der Kriminalist außer Dienst muss um sein Leben fürchten. Nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine alten Kontakte zu nutzen, um herauszufinden, wem er dieses Mal im Wege ist. Wir Leser können uns selbstredend darauf verlassen, dass es dem klugen, auch als Lyriker und Übersetzer von Kriminalromanen erfolgreichen, Ermittler wieder einmal gelingen wird, das Netz von Korruption und Machtmissbrauch, dem er beinahe zum Opfer gefallen wäre, zu entwirren. Aber ebenso sicher ist, dass sich die für solche Zustände verantwortlichen Verhältnisse nicht ändern werden.
Dass die Welt ganz und gar nicht in Ordnung ist, weiß ebenfalls ein finsterer, leider sehr glaubwürdiger Thriller aus Italien. 2008 im Original erschienen, erzählt Gioacchino Criaco in seinem Roman Schwarze Seelen vom organisierten Verbrechen in Süditalien. Schon immer war die Entführung reicher Leute aus dem Norden eine wichtige Einnahmequelle für die armen Ziegenhirten Kalabriens. Dem Ich-Erzähler und seinen Freunden Luigi und Luciano allerdings ist das nicht genug. Sie wollen mehr und sind schon mit Anfang zwanzig groß im internationalen Geschäft mit Waffen und Drogen. Criaco, der selbst aus Africo, dem Heimatort seiner fiktiven Protagonisten, stammt, beschreibt die gewerbsmäßige Kriminalität als Alltagsphänomen in sachlich-nüchterner Sprache fernab jeder Mafia-Romantik. Gleichzeitig taucht man in die Geschichte der Region ein, erfährt von den gesellschaftlichen Bedingungen des Verbrechens, ohne dass es gerechtfertigt würde. "Sie haben etwas Böses getan", sagt der Autor über die Gangster, mit denen er aufgewachsen ist, "egal, ob das Böse aus ihnen kam oder von einer blinden und tauben Gesellschaft verursacht wurde." Es ist das Gefühl der Unabänderlichkeit menschlicher Verhältnisse, aus dem der Schrecken bei der Lektüre dieses Buches rührt.
Auch Michael Herzigs Großstadtkrimi Am Ende die Nacht ist kein gemütlicher Schmöker, lässt sich aber leichter konsumieren als Criacos Erzählung aus dem Herzen der Finsternis. Mithilfe einer bemerkenswerten Schnitttechnik gelingt es dem Autor, die Schicksale seiner zwölf Protagonisten miteinander zu verknüpfen. Hausbesetzerszene und Rotlichtmilieu, Geld und Politik: In Herzigs Zürich hängt alles zusammen. Niemand bekommt etwas geschenkt, und mancher bleibt auf der Strecke. Am Ende die Nacht ist ein schneller kleiner Thriller, dessen Plot überzeugt, der aber in der Dialogtechnik noch etwas zulegen könnte. So ganz falsch war die Regel des großen Elmore Leonard, niemals ein anderes Verb als "sagte" in Dialogen zu verwenden, schließlich nicht. Michael Herzig lässt seine Figuren "stammeln", "präzisieren" und auch mal "stöhnen", als ob er beim Schreiben ein Synonymwörterbuch parat gehabt hätte. Das ist eindeutig zu viel des Guten, soll aber einer nachhaltigen Lektüreempfehlung nicht im Wege stehen.
Eine gute Erzähltechnik ist nicht zuletzt eine Frage der Routine. Als Vielschreiber zu gelten, mag manche Edelfeder nicht unbedingt als Kompliment betrachten, für die Großen des Genres gilt das gerade nicht. Einer von ihnen war Ed McBain, dessen Einfluss auf die zeitgenössische Kriminalliteratur - sofern sie denn etwas taugt - kaum zu unterschätzen ist. Deshalb sei zum Abschluss ein bisschen Sekundärliteratur empfohlen, nämlich das von Frank Göhre und Alf Mayer verfasste Kompendium Cops in the City, in dem es vor allem um jene Romane geht, die McBain dem 87. Polizeirevier gewidmet hat. 55 sind es an der Zahl, und zusammen ergeben sie nicht weniger als eine "Sittengeschichte von New York City, das hier nicht New York City heißt", wie Thomas Wörtche in seinem Vorwort schreibt. Wer das Buch liest, bekommt unweigerlich Lust, sie alle noch einmal zu lesen. Und das wäre keine schlechte Idee. |